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Phantom

Phantom

Titel: Phantom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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nichtkannte. Ich entdeckte einige vertraute Gesichter: Ärzte, Anwälte, einen Lobbyisten und das Faktotum des Gouverneurs. Erschrocken fuhr ich zusammen, als mir jemand auf die Schulter tippte, und der Scotch mit Soda, den ich mir eben geholt hatte, schwappte über meine Hand. Ich drehte mich um.
    »Dr. Scarpetta? Ich bin Frank Donahue«, stellte der Mann sich vor. »Fröhliche Weihnachten!«
    Der Gefängnisdirektor, der angeblich krank gewesen war, als Marino und ich den Todestrakt besichtigten, war klein, hatte grobe Züge und volles, von viel Grau durchzogenes Haar. Mit seinem feuerwehrroten Frack, dem weißen Rüschenhemd und der roten Fliege, an der winzige Lichter blinkten, sah er aus, als wolle er im Zirkus auftreten. Sein Whiskyglas neigte sich bedenklich zur Seite, als er mir die freie Hand zum Gruß entgegenstreckte.
    »Ich habe es sehr bedauert, Sie nicht persönlich herumführen zu können«, sagte er.
    »Einer Ihrer Beamten hat sich dankenswerterweise um uns gekümmert.«
    »Ich hoffe, Roberts hat seine Sache gut gemacht.«
    »Durchaus.«
    »Es ist ärgerlich, daß Sie sich diese Mühe machen mußten.«
    Sein Blick schweifte ab, und er blinzelte jemandem hinter mir zu. Dann wandte er sich wieder an mich. »Das war wieder mal ein Sturm im Wasserglas. Waddell hatte oft Nasenblute n – wegen seines hohen Blutdrucks, wissen Sie. Und er klagte ständig über irgendwas: Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit et cetera.« Ich beugte mich vor, um ihn besser verstehen zu können. »In der Todeszelle haben die Burschen alle möglichen Wehwehchen. Das kommt von der Angst und Waddell war einer der schlimmsten.«
    »Das wußte ich nicht«, sagte ich.
    »Das kann man auch nur wissen, wenn man täglich mit denen zu tun hat.«
    »Natürlich.«
    »Was zum Beispiel Waddells angebliche Wandlung betrifft – gelegentlich werde ich Ihnen mal was darüber erzählen. Er hat bei den anderen Häftlingen damit geprahlt, was er der armen Naismith angetan hatte. Hielt sich für einen tollen Kerl, weil er eine Berühmtheit getötet hatte.«
    Die Luft in dem übervollen Wohnzimmer war stickig, und ich empfand Donahues körperliche Nähe – Abstand zu halten, war in dem Gedränge nicht möglich – als ausgesprochen unangenehm.
    »Mein Job hat schon eine Menge unerfreuliche Aspekte«, fuhr er fort, »aber in Ihrem Beruf ist das ja noch bedeutend schlimmer. Ach ja, was hat eigentlich die Autopsie der Lady ergeben, die tot in ihrem Auto gefunden wurde, nachdem sie ihre Weihnachtsgeschenke schon so früh ausgepackt hatte?«
    Da es nur kurze Pressenotizen über den Fall Jennifer Deighton gegeben hatte, überraschte mich seine Detailkenntnis sehr.
    »Welche Lady meinen Sie?« fragte ich.
    »Ich erinnere mich nicht an den Namen.« Donahue nahm einen Schluck von seinem Whisky. Sein Gesicht war gerötet, und seine glänzenden Augen schossen nervös umher. »Eine traurige Geschichte, wirklich. Sie müssen uns demnächst unbedingt in unserem Neubau besuchen.«
    Eine vollbusige Matrone enthob mich einer weiteren Konversation, indem sie sich mit einem Freudenschrei auf ihn stürzte und ihn an sich drückte.
    Ich verließ die Party, sobald es nicht mehr als Unhöflichkeit ausgelegt werden konnte. Meine Nichte lag im Wohnzimmer auf dem Sofa. Im Kamin loderte ein behagliches Feuer. Ich bemerkte zwei Päckchen unter dem Weihnachtsbaum, die vorher noch nicht dort gelegen hatten.
    »Wie war’s?« fragte Lucy gähnend.
    »Du hast nichts versäumt. Hat Marino angerufen?«
    »Nein.«
    Ich versuchte erneut, ihn zu erreichen. Nach dem vierten Klingeln meldete er sich mürrisch.
    »Tut mir leid, daß ich Sie noch so spät störe«, entschuldigte ich mich, »aber ich muß Ihnen was erzählen.«
    »Nämlich?«
    »Ich komme gerade von einer Weihnachtsparty in der Nachbarschaft – und da habe ich Freund Donahue kennenge l ernt.«
    »Wie aufregend.«
    »Vielleicht sehe ich Gespenster, aber ich fand es seltsam, daß er mich auf Jennifer Deightons Tod ansprach.«
    Schweigen.
    »Und dann habe ich noch etwas für Sie«, fuhr ich fort. »Jennifer Deighton hat zwei Tage vor ihrer Ermordung eine Nachricht an Nicholas Grueman gefaxt. Dem Inhalt nach war sie aus irgendeinem Grund verzweifelt. Sie bat ihn, nach Richmond zu kommen.«
    Schweigen.
    »Sind Sie noch da?« fragte ich.
    »Ich denke nach.«
    »Freut mich, das zu hören. Was hielten Sie davon, wenn wir gemeinsam nachdächten? Kann ich Sie nicht doch überreden, morgen zum Essen zu kommen?«
    Er atmete tief durch.

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