Phantom
»Ich würde wirklich gerne kommen, Doc, aber ich…«
»In welcher Schublade ist es?« hörte ich eine weibliche Stimme im Hintergrund fragen.
Marino legte die Hand über die Sprechmuschel und murmelte etwas. Dann räusperte er sich.
»Sie haben Besuch?«
»Ja«, sagte er gedehnt.
»Ich würde mich freuen, wenn Sie Ihre Bekannte mitbrächten«, schaltete ich schnell.
»Wir wollen zu dem Weihnachtsbuffet im Sheraton.«
»Es liegt etwas für Sie unter dem Baum. Sollten Sie Ihre Meinung ändern, rufen Sie mich morgen früh an!«
»Ich fasse es nicht! Sie haben einen Christbaum gekauft? Ich wette, es ist ein häßlicher Kümmerling.«
»Nur kein Neid!« Ich lachte. »Wünschen Sie Ihrer Bekannten in meinem Namen ein frohes Fest!«
7
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, läuteten die Kirchenglocken, und Sonnenlicht schimmerte durch die Vorhänge. Obwohl ich am Abend zuvor wenig getrunken hatte, fühlte ich mich verkatert. Ich drehte mich zur Wand, schlief wieder ein und träumte von Mark. Als ich schließlich aufstand, duftete es in der Küche nach Vanille und Orangen. Lucy mahlte gerade Kaffee. »Du verwöhnst mich. Fröhliche Weihnachten!« Ich küßte sie auf den Scheitel. Auf dem Küchentisch stand ein mir unbekannter Karton. »Was ist denn das?« »Cheshire Müsli, eine Spezialmischung. Ich habe sie aus Miami mitgebracht. Sie schmeckt am besten mit Naturjoghurt, aber es ist keiner da. Also müssen wir uns mit Milch behelfen. Außerdem gibt es frischen Orangensaft und entkoffeinierten Vanillekaffee. Ich denke, wir sollten uns bei Mom und Großmutter melden.«
Während ich die Nummer meiner Mutter wählte, ging Lucy ins Arbeitszimmer an den Zweitapparat. Meine Schwester war bereits bei meiner Mutter, und so konnten wir ein Vierergespräch führen. Großmutter beschwerte sich ausgiebig über das Wetter; offenbar wurde Miami von heftigen Gewittern heimgesucht.
»Bei Gewitter soll man nicht telefonieren«, sagte ich. »Wir rufen später noch mal an.«
»Du bist wirklich überängstlich«, meinte Dorothy. »Immer denkst du gleich an das Schlimmste. Das hängt wahrscheinlich mit deinem Beruf zusammen.«
»Lucy, erzähl mir, was du gekriegt hast!« schaltete sich meine Mutter ein.
»Wir haben die Geschenke noch gar nicht aufgemacht, Großmutter.«
»Puh! Das war aber nah!« rief Dorothy. Es krachte und knisterte in der Leitung. »Das Licht flackert!«
»Mom, ich hoffe, du hast in deinem Computer keine Datei offen«, sagte Lucy. »Sonst ist sie jetzt wahrscheinlich bei m Teufel.«
»Dorothy, hast du Butter mitgebracht?« meldete sich meine Mutter wieder.
»Verdammt! Ich wußte doch, daß ich noch was…«
»Ich habe dich gestern abend mindestens dreimal daran erinnert!«
»Du weißt doch, wieviel ich im Kopf habe.«
»Es ist wirklich schrecklich mit dir. Erst bleibst du am Heiligen Abend zu Hause, um zu arbeiten, anstatt mit mir zu r Messe zu gehen, und dann vergißt du die Butter!«
»Ich fahre welche holen.«
»Und wo, wenn ich fragen darf? Wir haben Weihnachten!«
»Ich werde schon ein offenes Geschäft finden.«
Ich schaute auf, als Lucy in die Küche kam.
»Mir reicht’s«, flüsterte sie mir zu, während meine Matter und meine Schwester ihren Disput fortsetzten.
Nachdem es mir gelungen war, die beiden kurz zu unterbrechen, um mich zu verabschieden, gingen Lucy und ich ins Wohnzimmer. Es war ein schöner, ruhiger Wintermorgen. Die kahlen Äste der Bäume ragten reglos in den pastellblauen Himmel. Die Sonne ließ den Schnee funkeln. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder in Miami zu leben. Der Wechsel der Jahreszeiten stellt wie die Mondphasen eine treibende Kraft dar, die mein Denken und Handeln beeinflußt.
Lucys Geschenk von ihrer Großmutter bestand aus einem Fünfzig-Dollar-Scheck. Auch Dorothy schenkte ihr Geld, und ich schaute unbehaglich zu, wie sie das Kuvert von mir öffnete und meinen Scheck zu den anderen legte.
»Geld ist so unpersönlich«, entschuldigte ich mich.
»Möglich. Aber es ist mir am liebsten. Du hast mir damit einen weiteren Speicherchip für meinen Computer finanziert.« Sie holte die beiden Päckchen, die mir schon am Abend vorher aufgefallen waren, unter dem Weihnachtsbaum hervor und gab mir zuerst eines, das schwer war und in rot-silbernes Papier eingewickelt. Ich spürte ihre Ungeduld, als ich den Karton öffnete und das Seidenpapier auseinanderschlug.
»Ich dachte, da drin kannst du deine Gerichtstermine notieren. Der Einband ist aus dem gleichen
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