Phantom
fand ich schließlich das kleine, im Ranchstil erbaute Haus, das zwischen zwei Gebäuden stand, die ihm glichen wie ein Ei dem anderen.
»Hallo!« sagte ich durch die rosa Weihnachtssterne hindurch, die ich in den Händen hielt.
Sie schloß die Haustür hinter uns und führte mich ins Wohnzimmer, wo sie Bücher und Zeitschriften beiseite schob, um auf dem Couchtisch Platz für meinen Blumentopf zu schaffen.
»Wie geht es Ihnen?« fragte ich.
»Besser. Möchten Sie etwas trinken? Geben Sie mir Ihren Mantel.«
»Nein, danke – ich kann, wie gesagt, nur kurz bleiben.« Ich gab ihr das Päckchen. »Eine Kleinigkeit, die ich letzten Sommer in San Francisco erstanden habe.« Ich setzte mich auf das Sofa.
»Meine Güte, Sie fangen aber früh an mit Ihren Weihnachtseinkäufen!« Sie ließ sich mir gegenüber in einem abgeschabten Ohrensessel nieder. »Soll ich es gleich aufmachen?«
»Wie Sie wollen.«
Sie durchtrennte das Klebeband vorsichtig mit dem Daumennagel und streifte das zur Schleife gebundene Satinband ab. Nachdem sie das Einwickelpapier so sorgfältig zusammengelegt hatte, als wolle sie es wiederverwenden, öffnete sie das schwarze Kuvert.
»Oh«, murmelte sie, als sie das rote Seidentuch entfaltete.
»Ich dachte, es würde gut zu Ihrem schwarzen Mantel passen«, sagte ich. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich finde Wollschals kratzig.«
»Es ist wunderschön. Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Dr. Scarpetta. Sie sind der erste Mensch, der mir etwas aus San Francisco mitgebracht hat.«
Ihr Gesichtsausdruck schnitt mir ins Herz. Sie trug einen gelben Frotteemantel mit ausgefransten Ärmeln und schwarze Socken, die sicher ihrem Mann gehörten. Das Mobiliar war verschrammt und billig, der künstliche Weihnachtsbaum neben dem Fernseher nur spärlich geschmückt und einiger Zweige verlustig gegangen. Nur wenige Geschenke lagen darunter. An einer Wand lehnte zusammengeklappt ein offensichtlich gebrauchtes Kinderbett.
Als mein Blick an Susan hängenblieb, sah ich ihr an, daß sie sich schämte.
»Es ist alles so sauber«, versuchte ich die Situation zu retten.
»Sie wissen ja, wie ich bin – zwanghaft ordentlich.«
»In unserem Beruf ein höchst begrüßenswertes Zwangsverhalten.« Ich lächelte.
Sie faltete das Tuch zusammen und legte es wieder in das Kuvert. Dann zog sie den Mantel noch enger um sich und schaute schweigend die Weihnachtssterne an.
»Susan«, sagte ich. »Wollen Sie sich nicht aussprechen?«
Keine Reaktion.
»Es sieht Ihnen gar nicht ähnlich, so zu reagieren wie bei Jennifer Deightons Autopsie. Und es sieht Ihnen auch nicht ähnlich, einfach den Job hinzuwerfen, ohne mich wenigstens anzurufen.«
Sie atmete tief durch. »Es tut mir leid. Ich scheine zur Zeit alles falsch zu machen. Ständig reagiere ich übertrieben – wie neulich, als ich an Judy erinnert wurde.«
»Ich kann mir vorstellen, wie schlimm der Tod Ihrer Schwester für Sie gewesen sein muß.«
»Wir waren Zwillinge. Aber keine eineiigen. Judy war viel hübscher als ich… und das war ein Teil des Problems: Doreen war neidisch auf sie.«
»Doreen? War das das Mädchen, das behauptete, eine Hexe zu sein?«
»Ja. Und die ganze Sache kam mir durch Jennifer Deighton wieder hoch.«
»Was die Beleuchtung der Kirche in ihrer Straße betrifft, so ist sie für die Unregelmäßigkeiten nicht verantwortlich gewesen – vielleicht beruhigt Sie das etwas«, sagte ich. »Ich habe dort angerufen und erfahren, daß es sich um Natriumdampflampen handelt, die sehr störungsanfällig sind und ständig repariert werden müssen.«
»Als ich noch ein Kind war«, erzählte Susan, »gab es in unserem Sprengel viele Leute, die an Geister und Dämonen glaubten. Einmal war ein Mann bei uns zum Abendessen, der von einem Erlebnis mit einem Geis t erzählte: Als er nachts aufwachte, hörte er jemanden atmen, und dann flogen Bücher aus dem Regal durch den Raum. Solche Geschichten ängstigen mich noch heute entsetzlich.«
»Susan, bei unserer Arbeit brauchen wir einen nüchternen Verstand. Wir dürfen uns nicht von Ängsten oder traumatischen Erlebnissen beeinflussen lassen.«
»Sie sind nicht als Tochter eines Pfarrers aufgewachsen. Es gibt nichts Schlimmeres.« Sie blinzelte, um ihre Tränen zu vertreiben.
Ich widersprach ihr nicht.
»Immer wenn ich denke, ich hätte den alten Kram endlich überwunden, überfällt er mich plötzlich wieder aus dem Hinterhalt.« Susan starrte auf ihre ineinander verkrampften Hände hinunter.
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