Phantom
Leder wie deine Motorradjacke.«
»Lucy – der ist fabelhaft!« Ich fuhr mit den Fingerspitzen über den Lammledereinband des Terminkalenders und blätterte die chamoisfarbenen Seiten durch. Ich mußte an den Sonntag denken, an dem sie angekommen war und ich mich geängstigt hatte, weil sie erst so spät von ihrem Ausflug zum Fitneßcenter zurückkam. Sicherlich hatte sie einen Einkaufsbummel gemacht.
Sie legte mir das zweite Päckchen auf den Schoß. »Und da drin sind Ersatzblätter für das Adressenregister und das nächste Kalenderjahr.«
Das Telefon klingelte. Marino wünschte mir frohe Weihnachten und sagte, er komme vorbei – wegen des »Geschenks« für mich. »Sagen Sie Lucy, sie soll sich was Warmes anziehen, und nichts Enges.«
»Wovon sprechen Sie?« fragte ich verdutzt.
»Keine zu engen Jeans, sonst hat sie in den Taschen keinen Platz für die Patronen. Sie sagten doch, daß sie schießen lernen will. Die erste Unterrichtsstunde ist heute vormittag. Wann gibt’s Essen?«
»Zwischen halb zwei und zwei. Ich dachte, Sie haben was anderes vor.«
»Hatte ich. Ich bin in zwanzig Minuten bei Ihnen. Sagen Sie der Göre, daß es draußen tierisch kalt ist. Kommen Sie mit?«
»Geht nicht. Einer muß schließlich kochen.«
Als Marino kam, ließ er sich meinen Ersatzrevolver geben, einen achtunddreißiger Ruger mit Gummigriff, entsicherte ihn, klappte die Trommel heraus, drehte sie langsam, wobei er in jede Kammer schaute, zog den Hammer zurück, spähte in den Lauf und testete den Abzug. Während Lucy die Vorstellung neugierig verfolgte, räsonierte er über die Ablagerungen der Reinigungslösung, die ich benutzte, und eröffnete mir, daß die Waffe wahrscheinlich »Sporen« aufwies, die abgefeilt werden müßten. Dann fuhr er mit Lucy in seinem Ford weg.
Als sie einige Stunden später zurückkamen, präsentierte sie mir voller Stolz eine Blutblase an ihrem rechten Zeigefinger.
»Wie hat sie sich angestellt?« fragte ich und trocknete mir die Hände an meiner Küchenschürze ab.
»Nicht schlecht«, meinte Marino und schaute an mir vorbei. »Ich rieche Brathähnchen.«
»Nein, das tun Sie nicht.« Ich nahm ihm den Mantel ab. »Sie riechen cotoletta di tacchino alla bolognese. Aber es dauert noch ein bißchen.«
»Ich war besser als ›nicht schlecht‹«, protestierte Lucy. »Ich habe das Ziel nur zweimal verfehlt.«
»Du mußt noch viel üben – natürlich ohne Patronen –, damit du die nötige Ruhe kriegst und den Abzug nicht so durchreißt. Und denk dran: Immer den Hammer zurückziehen!«
»Ich habe mehr Ruß an mir als der Weihnachtsmann nach dem Rutsch durch den Schornstein«, erklärte Lucy vergnügt. »Ich geh’ duschen.«
Ich holte Kaffee aus der Küche, und Marino musterte Marsala, geriebenen Parmesan, Schinken und andere übriggebliebene Zutaten zu unserem Weihnachtsessen.
»Das war nett von Ihnen«, sagte ich.
»Eine Unterrichtsstunde genügt nicht. Vielleicht kann ich noch ein paarmal mit ihr üben, bevor sie nach Florida zurückfliegt.«
»Ich hoffe, es hat Sie nicht zuviel Mühe gekostet, Ihre Pläne zu ändern.«
»Nein«, erwiderte er knapp.
»Offenbar haben Sie sich gegen das Sheraton-Buffet entschieden«, bohrte ich weiter. »Warum haben Sie denn Ihre Bekannte nicht mitgebracht?«
»Das ging nicht.«
»Hat sie einen Namen?«
»Tanda.«
»Ein interessanter Name.«
Marino wurde dunkelrot.
»Wie ist Tanda denn so?«
»Wollen Sie die Wahrheit wissen? Sie ist es nicht wert, daß wir über sie reden.« Er stand abrupt auf und ging zur Toilette. Ich hatte mich immer gehütet, Marino über sein Privatleben auszufragen, doch diesmal konnte ich nicht widerstehen.
»Wie haben Sie und Tanda sich kennengelernt?« wollte ich wissen, als er zurückkam.
»Bei einer Tanzveranstaltung des Polizeivereins.«
»Ich finde es großartig, daß Sie unter Leute gehen.«
»Das mache ich so schnell nicht wieder – ich fand es gräßlich. Ich kam mir vor wie ein Steinzeitmensch, der sich plötzlich im zwanzigsten Jahrhundert wiederfindet Seit dreißig Jahren war das das erste Mal, daß ich allein wegging. Die Frauen sind ganz anders als früher.«
Ich verkniff mir ein Lächeln, denn Marino betrachtete die Angelegenheit ganz offensichtlich nicht im mindesten als erheiternd.
»Inwiefern?« fragte ich.
»Es ist nicht mehr so unkompliziert.«
»Unkompliziert?«
»Ja. Wie mit Doris. Unsere Beziehung war überhaupt nicht kompliziert. Und dann geht sie nach dreißig Jahren plötzlich, und
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