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Phantom

Phantom

Titel: Phantom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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»Der Druck ist einfach zu groß«, sagte sie.
    »Welcher Druck?« fragte ich verdutzt.
    »Durch die Arbeit.«
    »Was ist an der denn jetzt anders als früher?« Ich erwartete, daß sie ihre Schwangerschaft als Grund anführen würde.
    »Jason meint, das alles sei nicht gut für mich.«
    »Ich verstehe.«
    »Wenn ich nach Hause komme und ihm erzähle, wie mein Tag war, reagiert er jedesmal entsetzt. ›Merkst du denn gar nicht, wie schrecklich das ist?‹ fragt er. Er hat recht: Es ist wirklich schrecklich. Mit der Zeit fiel es mir immer schwerer, abzuschalten, und ich bekam Alpträume. Ich habe genug von verwesten, verstümmelten, vergewaltigten und erschossenen Menschen, ich will keine Kinder mehr obduzieren, denen die grausamsten Dinge angetan worden sind.« Sie hob den Blick und schaute mir in die Augen. Ihre Unterlippe zitterte. »Ich kann keine Toten mehr sehen!«
    Ich dachte daran, wie schwer es sein würde, einen gleichwertigen Ersatz für Susan zu finden, und es graute mir davor, mich mit all den Leuten unterhalten zu müssen, die sich für den Job melden würden: Ein Großteil der Kandidaten, die sich für eine solche Arbeit bewerben, hat merkwürdige Gründe dafür. Ich mochte Susan, und ich war beunruhigt und gekränkt, weil sie offensichtlich nicht ehrlich zu mir war.
    »Gibt es noch etwas, das Sie mir erzählen wollen?« fragte ich.
    In ihren Augen stand Furcht. »Nicht, daß ich wüßte.«
    Ich hörte eine Autotür zuschlagen.
    »Jason«, flüsterte sie.
    Es war klar, daß mein Besuch damit beendet war, und als ich aufstand, sagte ich leise zu ihr: »Bitte, melden Sie sich bei mir, wenn Sie irgend etwas brauchen, Susan – einen Rat oder auch nur einen Zuhörer. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«
    Auf dem Weg nach draußen begegneten wir ihrem Mann. Er war groß und kräftig gebaut, hatte braune Locken und einen geistesabwesenden Blick. Obwohl er mich höflich begrüßte, spürte ich, daß er sich im Gegensatz zu seinen Worten nicht im mindesten freute, mich hier anzutreffen. Susans mangelndes Vertrauen und die Tatsache, daß sie mich so sang-und klanglos im Stich ließ, verletzten mich. Seit Marks Tod war ich sehr viel empfindlicher als früher.
    Ich nahm die Cary-Street-Ausfahrt, bog links in mein Viertel, Windsor Farms, ab und fuhr zu Bruce Carter, seines Zeichens Richter am Bezirksgericht. Er wohnt in der Sulgrave, ein paar Blocks von meinem Domizil entfernt, und plötzlich sah ich mich wieder als Kind in Miami mit dem Obstkarren vor einem Haus stehen, das mir wie ein Schloß erschien. Die gepflegten Hände, die mir das Kleingeld gaben, gehörten unvorstellbar reichen Menschen, und ich spürte deutlich ihr Mitleid. Und wenn ich mit der Tasche voller Münzen nach meiner Tagestour nach Hause kam, empfing mich der Ge ruch des Todes in dem Flur, an dessen Ende mein Vater im Schlafzimmer im Sterben lag.
    Windsor Farms ist ein vornehmes, ruhiges Viertel: Häuser im georgianischen und Tudor-Stil, Straßen mit englischen Namen, von alten Bäumen beschattete Gärten hinter geschwungenen Backsteinmauern. Private Sicherheitsleute wachen über die Privilegierten, für die Alarmanlagen etwas ebenso Selbstverständliches sind wie Rasensprenger. In stillschweigendem Einverständnis befolgt man gewisse Regeln: Man spannt im Garten keine Wäscheleinen, besucht einander nicht unangemeldet, hat keine lärmenden Kinder und besitzt ein angemessenes Fahrzeug.
    Um Viertel nach sieben parkte ich vor dem weißgetünchten, schiefergedeckten Backsteinhaus des Richters. In den Buchsbaumpyramiden und Fichten glitzerten weiße Lämp chen wie gefangene Sterne, und ein duftender Kranz hing an der rotlackierten Haustür.
    Nancy Carter begrüßte mich mit strahlendem Lächeln und nahm mir den Mantel ab. Ihr mit Ziermünzen besticktes, langes rotes Kleid blinkte und blitzte bei jeder Bewegung. Die Frau des Richters war in den Fünfzigern, was man ihr trotz aller Bemühungen auch ansah. Ihr Redefluß wurde von dem Stimmengewirr der Gäste im Hintergrund untermalt. Sie führte mich ins Wohnzimmer, dessen teure Einrichtung den perfekten Rahmen für die illustre Gesellschaft bildete, die hier versammelt war. Allein der Perserteppich hatte sicherlich mehr gekostet als das Haus, in dem ich gerade auf der anderen Seite des Flusses zu Gast gewesen war.
    »Bruce muß hier irgendwo sein.« Die Hausherrin sah sich suchend um. »Die Bar ist da drüben.« Und schon war sie enteilt.
    Der Richter sprach gerade mit einem Mann, den ich

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