Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition)
abhalten können, Österreich zu annektieren …«
Dietrich wurde nun seinerseits von Sergius unterbrochen, der mit seinen siebzehn Jahren einer der jüngsten Vertreter der Arbeitermiliz im Bereichskomitee war. »Seht euch das Wasser in den Gläsern an, die Litzi auf den Tisch gestellt hat«, sagte er. »Die Gläser stehen vollkommen still, aber das Wasser in ihnen kräuselt sich, als würde das, was in dieser Stadt und in Europa vorgeht, die Erdkruste zum Beben bringen.«
»Das Wasser kräuselt sich, weil Dietrich so ungestüm aufgesprungen ist«, sagte einer der Delegierten der Arbeiterschaft mit einem leisen Lachen.
»Das Wasser erzittert«, sagte ich darauf, wenn ich mich recht erinnere, »so, wie die Erde vor einem Beben erzittert. Die Revolution wird in Wien ausbrechen, und die Chancen stehen gut, dass sie die ganze kapitalistische Welt erfasst.«
Sonja, Dietrichs derzeitige Freundin und die einzige weitere Frau im Raum, hob die Hand. Sie war wie ich Anfang zwanzig, aber im Gegensatz zu mir eine wahre Schönheit, mit hohen Wangenknochen und tiefliegenden pechschwarzen Augen, die einen an Bergstämme aus dem Kaukasus denken ließen. Ich glaube, dass ihr Großvater oder ihre Großmutter aus Usbekistan kam. »Scheiße noch mal, Sonja, wir sind hier nicht an der Uni«, fuhr Dietrich sie unangenehm heftig an. »Du musst dich nicht melden, um etwas zu sagen.
»Ich wollte eine Frage stellen.«
»Aber gewiss, frag ruhig, mein Kind«, sagte der Professor.
Sonja lehnte sich vor, und ihre Brüste fielen fast aus der tief ausgeschnittenen österreichischen Bauernbluse. Ihr Dekolleté blieb unter den anwesenden Voyeuren nicht unbemerkt. »Ich bin, wie ihr wisst, hier im Bezirkskomitee die Vertreterin der sozialistischen Partei«, sagte sie. Sie war es nicht gewöhnt, vor größerem Publikum zu sprechen, und man merkte ihr die Anspannung an. Daher holte sie tief Luft, bevor sie fortfuhr: »Ich bin Marxistin, aber keine Kommunistin, und ich stelle die Frage, die sich viele meiner sozialistischen Genossen stellen: Was ist das größere Übel – der deutsche Faschismus oder der sowjetische Kommunismus?«
Dietrich, der ein sturer Kommunist war, verdrehte die Augen, woraufhin ich mich fragte, worüber die beiden wohl im Bett redeten. Einige der Genossen aus der KP wendeten sich angewidert ab. Und dann geschah etwas Seltsames: Mein Engländer, der dem Gespräch aufmerksam gefolgt war und dessen Blicke unablässig zwischen den Rednern hin- und hergewandert waren, so als wäre er bei einem Tennismatch im heimischen Country Club, ergriff das Wort. Er wandte sich direkt an Sonja: »Wenn du sowjetischer Kommunismus sagst, meinst du natürlich den Stalinismus. Ich denke, dass wir da unterscheiden müssen. Stalins heikle Alleinherrschaft muss aus historischer P-P-Perspektive betrachtet werden. Die Kader, die den b-b-bolschewistischen Aufstand organisiert haben, mussten jahrelang als Illegale leben, jahrzehntelang, bis die Revolution sie an die Schaltstellen der Macht gebracht hat. Ihr Umgang damit war daher zunächst noch unsicher. Sie mussten sich gegen gegen ausländische Invasoren und ihre weißrussischen Lakaien in einem br-br-brutalen Bürgerkrieg wehren. Das erklärt gewiss, zumindest t-t-teilweise, das invasive Vorgehen der sowjetischen Geheimpolizei und die widerwärtige Säuberung der Parteiränge in den Zwanzigern, und es erklärt auch Stalins Überzeugung, von Feinden umgeben zu sein, die er eliminieren müsse, bevor sie ihn eliminieren. Durch diese V-V-Verfolgung von Feinden, wirklichen und nur vermeintlichen, hat Stalin das Bild des Kommunismus zweifellos verzerrt. Kommunismus und Stalinismus sind zwei Paar Schuhe. Der Kommunismus wird auch nach Stalin und dem Ende des Stalinismus noch bestehen. Aber um deine Frage zu beantworten: Hitler, hinter dem das deutsche Militär steht, und der Faschismus, der den Geist der deutschen Massen ergriffen hat, sind eindeutig das größere Übel.«
Vor Verlegenheit errötend, warf Kim mir einen Blick zu.
»Unser Engländer ist nicht so unschuldig, wie wir dachten«, sagte ich. »Er hat die Frage korrekt beantwortet. Die unter uns, die wir der kommunistischen Sache Gefolgschaft gelobt haben, verteidigen ein Ideal und kein Individuum.«
»Sie sagen also«, sagte Sonja und sah dabei den Engländer in ihrem Wunsch, zu verstehen, eindringlich an, »dass Stalin das kleinere von zwei Übeln ist.«
»Das ist nicht genau das, was …«
»Wenn Hitler das größere von zwei Übeln ist,
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