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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Sloterdijk
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Pontifex maximus der marxistischen Lehre, sich seinem römischen Rivalen überlegen fühlen, als er die ominöse Frage stellte, wie viele Divisionen der Papst habe.
    Nach dem politisch-ökonomischen Debakel der marxistischen Interpretendiktaturen in so vielen Ländern – die nicht weniger als eine zweite Welt zu bilden beanspruchten – kommt die Frage auf, wie viele Leser Marx hatte, und unter diesen – wie viele gute?
    Gewiß gab es schon früh, besonders in den westlichen Marxismen, geistreiche Versuche, Marx gegen seine bewaffneten Liebhaber zu verteidigen. Seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts wurde es unter Linksintellektuellen guter Ton, Marx für einen großen Unverstandenen zu halten, zu dessen wahren Intentionen erst eine kritische Gnosis Wege weisen könne. Hier stellte man den wahren Marx dem folgenreichen gegenüber; den Systemanalytiker dem Utopisten, den Strukturwissenschaftler dem humanistischen Ideologen. In solchen Nischen linker Ironie vermochte der Autor des »Kapitals« bis in die siebziger Jahre unseres Jahrhunderts zu überleben als Dissident des Unheils, das seinen Namen vor sich hertrug. Nach dem Verschwinden des ideologischen Spuk-Körpers Sowjetunion stellt sich die Frage neu, ob die Marxschen Schriften die Chance haben sollen, von ihrer Wirkungsgeschichte entlastet zu werden. Kommt es für sie zum Freispruch wegen erwiesener anderer Intentionen? Dürfen sie zu erneuter Lektüre einladen, als wären die ersten Auslegungswellen wie bloße Projektionen und Übergriffe seitens selbsternannter falscher Apostel verrauscht? In
der Tat, die Schriften liegen vor, immer noch und wie zum ersten Mal, vergleichbar einem bedrückten, doch befreiten Land, aus dem die Besatzer abgezogen sind. Gewiß glaubt von den wenigen Reisenden in den neuen Textländern keiner mehr, daß aus diesen unmittelbar ein Licht auf die Verhältnisse der avancierten Geld- und Mediengesellschaft fällt. Wohl wird eine Generation vergehen, bevor man Marx im Text so lesen wird, wie man die ihm am nächsten verwandten Autoren schon heute gelegentlich liest, namentlich Fichte, Hegel, Feuerbach und Kierkegaard: als eine Schicksalsfigur in den Endspielen der Metaphysik, die sich im Deutschen Idealismus auf gewisse Weise »vollendet« zu haben schien und die sich doch in ihren angeblich nachmetaphysischen Erben auf gespenstische Weise am Leben hielt. Man wird dann bemerken, daß die philosophisch-grundbegriffliche Schicht im Marxschen Œuvre einen weiterentwickelten Aggregatszustand von Fichtes Idee der Entfremdung darstellt. In diesem Sinn darf man sagen, daß der Marxismus eine Fußnote zum Deutschen Idealismus gewesen sei und daß er eine Metastase des gnostischen Entfremdungsgedankens ins intellektuelle Feld des 20. Jahrhunderts eingeprägt habe.
    Der gute Leser der Zukunft wird in Marxens Text aufmerksam werden auf die Begriffe und Metaphern, unter denen sich die längsten Träume der klassischen Metaphysik
in ein zeitgemäßes Inkognito gehüllt hatten – insbesondere das allesdurchdringende Phantasma der vollmächtigen Selbsterzeugung des historischen Subjekts und das kryptotheologische Motiv von der Wiedergewinnung der ursprünglichen Selbstfülle durch die »Produzenten« in einer vom Geld befreiten Welt. Diese Grundfiguren von Marxens philosophischer Fiktion einer »proletarischen Vernunft« treten ans Licht, sobald man sich in seine Werke einarbeitet mit jener Mischung aus Neugier und Gelassenheit, die erst nach dem Abklingen des exegetischen Religionskriegs möglich wurde. Mit Günter Schulte – dem das tiefsinnigste neuere Werk über den messianischen Kritiker der politischen Ökonomie zu verdanken ist – darf man die Frage wiederholen: »Kennen Sie Marx?«, und man wird sich mit dem Autor davon überzeugen, daß von Marx-Kenntnissen keine Rede sein kann, solange seine neuen Leser nicht teilnehmen an dem Abenteuer einer »Kritik der proletarischen Vernunft«. 12 Erneuerte Marx-Kenntnisse haben also nicht den Sinn, einen kompromittierten Klassiker der Gesellschaftskritik in kritikferner Zeit wieder trotzig unter die Leute zu bringen. Die Marxschen Inspirationen nachvollziehen heißt vielmehr: sich einlassen in die Spukgeschichte der Begriffe, die als staatgewordene Gewalt, als technikgewordener Geist und als allvernetzendes Geld mehr denn je am Leben der Individuen saugen. Ohne Zweifel wird sich
Marxens künftiger theoretischer Ruhm knüpfen an seine Leistungen als Beschwörer der toten Arbeit. Der Kern

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