Physiologie der Ehe (German Edition)
Wäschenäherin, sie ist die Frau eines Buchbinders, eines Strumpfwirkers, eines Tuchhändlers, eines Kanzleirats« usw.
Aber dieses Geständnis einer in untergeordneten Kreisen sich bewegenden Liebe, die unter Warenballen, Zuckerhüten oder Flanellkamisolen aufgeblüht und groß geworden ist, begleitet stets eine pomphafte Lobpreisung des Vermögens der Dame. Nur der Mann befaßt sich mit dem Geschäft, er ist reich, er hat schöne Möbel; übrigens kommt die Herzallerliebste zu ihrem Liebhaber; sie hat einen Kaschmirschal, ein Landhaus usw.
Kurz, einem jungen Menschen fehlt es niemals an ausgezeichneten Gründen, um zu beweisen, daß seine Geliebte in allernächster Zeit eine anständige Frau werden wird, wenn sie es nicht bereits ist. Diese Unterscheidung, die durch die Eleganz unserer Sitten hervorgerufen wurde, läßt sich ebensowenig genau bezeichnen, wie die Linie, bei der der gute Ton beginnt. Was ist denn also eine anständige Frau?
Dieser Stoff steht in zu innigen Beziehungen zur Eitelkeit der Frauen, zur Eitelkeit ihrer Liebhaber, ja sogar zur Eitelkeit eines Ehemanns, als daß wir nicht hier die allgemeinen Regeln feststellen sollten, die das Ergebnis einer langen Beobachtung sind.
Unsere Million von Bevorzugten stellt eine Menge von Frauen dar, die zum glorreichen Titel einer anständigen Frau berufen sind – aber nicht alle werden auserwählt. Die Grundsätze, nach denen diese Auswahl sich vollzieht, sind in folgenden Denksprüchen niedergelegt:
Aphorismen
I. Eine anständige Frau ist notwendigerweise verheiratet.
II. Eine anständige Frau ist weniger als vierzig Jahre alt.
III. Eine verheiratete Frau, deren Gunstbezeigungen gegen Barzahlung käuflich sind, ist keine anständige Frau.
IV. Eine verheiratete Frau, die eigene Equipage hat, ist eine anständige Frau.
V. Eine Frau, die in ihrer Haushaltung ihre Küche selbst besorgt, ist keine anständige Frau.
VI. Wenn ein Mann zwanzigtausend Franken Rente verdient hat, ist seine Frau eine anständige Frau, einerlei, welcher Art von Geschäft er sein Vermögen verdankt.
VII. Eine Frau, die ›der Petroleum‹, ›ebend‹ statt ›eben‹, ›Marcht‹ statt ›Markt‹ sagt – kann niemals eine anständige Frau sein, einerlei, wie groß ihr Vermögen ist. [Fußnote: Da es keinen Sinn hätte, die von Balzac ausgewählten Beispiele eines schlechten Französisch in der deutschen Ausgabe mitzuteilen, hat der Übersetzer sich erlaubt, dafür einige Ausdrücke zu geben, die in Berlin auch von Leuten gebraucht werden, die sich zu den ›Gebildeten‹ rechnen.]
VIII. Eine anständige Frau muß in Vermögensverhältnissen leben, die es ihrem Liebhaber erlauben, zu denken, daß sie ihm niemals in irgendeiner Weise zur Last fallen werde.
IX. Eine Frau, die im dritten Stock wohnt – ausgenommen in der Rue de Rivoli und in der Rue de Castiglione – ist keine anständige Frau.
X. Die Frau eines Bankiers ist stets eine anständige Frau; aber eine Frau, die mit im Kontor sitzt, kann nur dann eine anständige Frau sein, wenn ihr Mann ein sehr ausgedehntes Geschäft betreibt, und wenn sie nicht über dem Laden wohnt.
XI. Die unverheiratete Nichte eines Bischofs kann – wenn sie bei ihm im Hause wohnt – für eine anständige Frau gelten, weil sie, um eine Liebesintrige zu haben, genötigt ist, ihren Onkel zu hintergehen.
XII. Anständig ist eine Frau, wenn man sie zu kompromittieren befürchtet.
XIII. Die Frau eines Künstlers ist stets eine anständige Frau.
Indem er diese Grundsätze zur Anwendung bringt, kann sogar ein Provinziale aus dem Departement Ardeche aller Schwierigkeiten Herr werden, die auf diesem Gebiet zutage treten.
Um nicht selber ihre Küche besorgen zu müssen, um eine glänzende Erziehung empfangen zu haben, um mit Gefühl kokett zu sein, um das Recht zu haben, ganze Stunden in einem Boudoir auf dem Sofa liegend zu verbringen und sich ihrem Seelenleben hinzugeben – braucht eine Frau zum mindesten ein Jahreseinkommen von sechstausend Franken in der Provinz oder von zwanzigtausend Franken in Paris ... Diese beiden Vermögensgrenzpunkte werden uns einen Anhalt geben, wie viele anständige Frauen sich in der als Bruttoergebnis unserer Statistik erhaltenen Million befinden: Dreihunderttausend Rentner mit fünfzehnhundert Franken jährlich beanspruchen die Gesamtsumme der vom Staatsschatz gezahlten Pensionen, lebenslänglichen und ewigen Renten.
Dreihunderttausend Grundeigentümer mit einem Einkommen von dreitausendfünfhundert
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