Picasso kann jeder
frische Wahrnehmung von ganz anderen Pflanzen, von anderen Gebäuden und anderen Physiognomien. Wir können aber auch hier unvertraute Welten finden, die die Wahrnehmung mit neuen Reizen füttern. Die Nahfotografie bietet solche Welten; Nahfotos von Insekten zeigen ganz überraschend fremde Monster, bei deren Betrachtung die Wahrnehmung eine Weile mit neuen Eindrücken beschäftigt ist. Ausstellungen zeitgenössischer Kunst bieten oft frische Wahrnehmungserlebnisse; es ist ja gerade das Ziel der Künstler, vertraute Wahrnehmungsschemata aufzubrechen. Da gibt es eine Vielzahl von Beispielen. Wer auf dem Weg ist, seine Wahrnehmung neu zu beleben, der sollte sich Ausstellungen von zeitgenössischen Künstlern wie Matthew Barney (geb. 1967) oder Anselm Kiefer (geb. 1945) nicht entgehen lassen.
Es gibt verschiedene Materialien, die die Wahrnehmung trainieren. Die sogenannten Doodles bzw. Logos rufen mit wenigen Strichen eine Vorstellung hervor oder vermitteln Informationen oder eine Botschaft. Es gilt, die überraschende Bedeutung zu finden. Manche Rätselbücher bieten eingebettete geometrische Figuren, und es erfordert eine bewusste und genaue Wahrnehmung, diese im Umfeld zu entdecken.
In der Zen-Kunst gibt es eine Übung, die Wahrnehmungsschemata auf ganz drastische Art aufbricht:
Den »negativen Raum« wahrnehmen
Man betrachtet nicht mehr die vertrauten Objekte der Umgebung, sondern konzentriert sich auf die Zwischenräume. Welche Form hat der Zwischenraum zwischen zwei Personen, zwischen Möbeln oder zwischen den Möbeln und einer Person? Das sind alles ganz unregelmäßige, unbekannte Formen. Wenn man diese Übung einige Tage durchführt, kann es zu grundlegenden Veränderungen des Erlebens kommen. Der Zen-Schüler hofft auf einen Moment der Erleuchtung.
Handlungsgewohnheiten auflockern
Man hat tägliche Gewohnheiten, fährt immer den gleichen Weg zum Arbeitsplatz, vielleicht weil er sich als schnellster oder angenehmster Weg erwiesen hat. Aber es gibt meist viele alternative Wege. Ein erster Schritt, aus gewohnten Handlungsweisen herauszukommen: einfach einen der möglichen anderen Wege zu nehmen. Natürlich macht man dann andere Wahrnehmungen und gewinnt dadurch Anregungen; die eigene Welt ist »vielfältiger« geworden.
In der Psychotherapie gibt es eine Methode, den Klienten zu neuartigem Verhalten zu ermutigen. Der Therapeut fragt zum Beginn jeder Stunde: »Was haben Sie in der vergangenen Woche zum ersten Mal gemacht oder zum ersten Mal erlebt?« Mit der Zeit achtet der Klient darauf und kann solche Dinge berichten. Vielleicht führt diese Orientierung auch dazu, dass er sich auf neue Erlebnisse leichter einlässt. Es ist dann erstaunlich, wie viele Episoden auch noch im höheren Lebensalter solch ein erstes Mal darstellen können.
Ich fragte einen 63-jährigen Bekannten, der zufällig vorbeikam: »Gibt es irgendwas, das du heute zum ersten Mal in deinem Leben gemacht hast?« Er lachte und sagte: »Ja, ich habe heute zum ersten Mal eine Tablette zum Abnehmen genommen. Hoffentlich hilft es etwas.«
In Ihrem Hobby haben Sie Gewohnheiten entwickelt: Man hört klassische Musik oder Jazz oder Pop, je nachdem, aber das meist ausschließlich.
Übung: Lassen Sie sich einmal von einem Freund mit anderem Musikgeschmack eine CD mitbringen, die er Ihnen empfohlen hat, und hören Sie die Musik mit Interesse. Man könnte die Sammlungen an CDs einmal für einige Wochen gegenseitig ausleihen. Vielleicht entdecken Sie dann neue Musikfavoriten.
Denkgewohnheiten auflockern
Denkgewohnheiten aufzulockern heißt, das, was selbstverständlich scheint, was jedermann ganz ungeprüft für richtig hält, in Frage zu stellen. An verschiedenen Stellen wurde schon darauf hingewiesen, dass diese Haltung auch Widerstand und Ablehnung hervorruft. Vielleicht ist das der Grund, warum kreative Menschen oft nicht so stark an Sozialkontakten interessiert sind.
Fragen Sie sich immer, wenn Sie Informationen aufnehmen: Ist das wirklich so, was spricht dagegen? Was wäre, wenn das Gegenteil zuträfe?
In einem Buch versuchen Alexander und Edith Tollmann zu beweisen, dass die Sintflut die Folge eines gewaltigen Meteoriteneinschlags war (Und die Sintflut gab es doch) . Ein weiteres Buch verlegt Troja in die Gegend von Antalya an der südlichsten türkischen Mittelmeerküste. Will man Denkschemata auflockern, lohnt es sich, solche Bücher zu lesen. Man kann dann prüfen, ob man an widersprüchlichen Stellen der bisherigen Annahmen schon
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