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Picknick auf dem Eis (German Edition)

Picknick auf dem Eis (German Edition)

Titel: Picknick auf dem Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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wir uns mal wieder«, sagte Ljoscha und überreichte ihm seine Visitenkarte. »Und schreib mir deine auf, für alle Fälle…«
    Viktor steckte Ljoschas Visitenkarte in die Jackentasche und schrieb seine Nummer auf einen Notizblock, der am Armaturenbrett des Autos an einem Magneten klebte.
    51
     
    Gegen Abend wollte Nina nach Hause gehen.
    »Würdest du noch bleiben?« bat Viktor sie. »Sozusagen für eine bescheidene Trauerfeier?«
    Nina nickte. Viktor sah sehr müde aus. In seinen Worten und Blicken spürte sie eine große Unsicherheit.
    »Geh ein bißchen zu Sonja, ich denke mir inzwischen was aus«, sagte sie.
    Viktor ging ins Wohnzimmer, wo Sonja schon den Fernseher angestellt hatte, Nina in die Küche.
    »Was läuft denn heute?« fragte Viktor Sonja und setzte sich neben sie.
    »Die fünfte Folge von ›Elvira‹« , antwortete das Mädchen fröhlich.
    Viktor zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte Sonja die Rotznase ab.
    Auf dem Fernsehschirm war gerade eine lange Reklamepause. Alles flimmerte wie in einem Kaleidoskop. Viktor sah zu Boden, er wollte seine Augen nicht mit den grellen Reklameclips überanstrengen. Sonja verschlang sie mit großer Neugier.
    Schließlich war der rasende Reklameteil zu Ende, es erschienen die Titel der Serie mit einer kitschig-romantischen Musik.
    »Willst du nicht schlafen gehen?« fragte Viktor.
    »Nein«, antwortete das Mädchen, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden. »Und du? Willst du schlafen gehen?«
    Viktor gab keine Antwort. Die lateinamerikanische Süßlichkeit der Serienhelden begann ihm auf die Nerven zu gehen, und in die Geschichte auf dem Bildschirm wollte er sich nicht weiter vertiefen. Er sah sich suchend nach Mischa um, aber im Wohnzimmer war er nicht. Im Schlafzimmer entdeckte er den Pinguin auf seiner Unterlage hinter dem dunkelgrünen Sofa, unbeweglich wie eine Statue. Viktor kniete sich vor ihn hin.
    »Na was ist mit dir?« fragte er und berührte seine kleine schwarze Schulter.
    Mischa sah ihm in die Augen, dann ließ er den Kopf hängen und starrte auf den Boden.
    Viktor dachte an Pidpalyj, erinnerte sich daran, wie er ihn rasiert hatte. Dann versuchte er diese Erinnerung mit Gewalt zu verdrängen, obwohl ihm immer noch ein Schauder über den Rücken lief.
    ›Wahrscheinlich habe ich mich heute auf dem Friedhof erkältet‹, dachte Viktor.
    Aber der alte Pinguinologe, der so leicht und ohne Gehabe seinen baldigen Tod erwartet hatte, wollte ihm nicht aus dem Sinn gehen. ›Ich habe keine unerledigten Geschäfte…‹, hörte er ihn sagen. Viktor schüttelte den Kopf, er wunderte sich über Pidpalyjs Worte. Der Pinguin wich erschrocken einen Schritt zurück und guckte sein Herrchen an.
    ›Ich habe auch keine unerledigten Geschäfte‹, dachte Viktor, lächelte aber sofort schuldbewußt, da ihm die Falschheit seiner Gedanken bewußt wurde.
    Nein, er hatte unerledigte Dinge, aber selbst wenn er keine hätte, würde er sich kaum so leicht mit dem nahenden Tod abfinden. ›Ein schweres Leben ist besser als ein leichter Tod‹ hatte er irgendwann mal in sein Notizbuch geschrieben und diesen Satz dann lange Zeit überall zitiert, bei passenden wie unpassenden Gelegenheiten. Irgendwann hatte er ihn dann vergessen, und erst jetzt, nach vielen Jahren tauchte er wieder auf, im Zusammenhang mit den Worten des Alten, die ihn so bewegten. Zwei verschiedene Menschen, zwei verschiedene Alter, zwei Haltungen…
    Mischa beobachtete sein in Gedanken versunkenes, vor ihm hockendes Herrchen, kam näher an ihn heran und stieß mit seinem kalten Schnabel an dessen Hals. Viktor zuckte zusammen. Die kalte Zärtlichkeit des Pinguin riß ihn aus seinen Gedanken, weckte ihn auf. Er sah seinen Zögling an, seufzte, stand auf und ging zum Fenster.
    Draußen in der Dunkelheit leuchteten wie ein Kreuzworträtsel die Fenster des Nachbarhauses. Es hatte viele Wörter. Viktor betrachtete die Fenster, diese Beweise für die Alltäglichkeit des Lebens. Er war traurig, aber gleichzeitig milderte die Stille seine Traurigkeit. Allmählich wurde er ruhiger. Er empfand eine seltsame und ein wenig schmerzhafte Ruhe, ähnlich wie die Ruhe vor dem Sturm. Mit den Händen auf das kalte Fensterbrett gestützt und die Beine an die warme Heizung gedrückt, ließ er diese Ruhe an sich vorbeiziehen und spürte ihre Vergänglichkeit.
    Nach einiger Zeit hörte Viktor ein leises Atmen hinter seinem Rücken. Als er sich umdrehte, sah er Nina im Halbdunkel des Zimmers.
    »Es ist alles fertig«,

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