Picknick auf dem Eis (German Edition)
Nasenflügeln, und er nieste.
›Es wäre besser für ihn gewesen, zu Hause zu sterben‹, dachte er beim Betrachten der alten Küchenmöbel, der stehengebliebenen Wanduhr, des Terrakottaaschenbechers auf dem Fensterbrett, den der Alte offensichtlich nie benutzt hatte, aus Vergeßlichkeit oder aus Sparsamkeit.
Viktor ging ins Zimmer. Um den großen runden Tisch standen alte Stühle. Ein Kronleuchter mit fünf matten Schirmen hing in der Mitte der Decke. Gegenüber dem Eingang stand eine Kommode, auf der sich an der Wand drei Bücherstapel auftürmten. Fotografien und Zeitungsausschnitte verdeckten die Bücherrücken. An den Wänden hingen ebenfalls gerahmte Fotos und verbreiteten ein Gefühl von Vergangenheit. Die ganze Einrichtung der Wohnung gehörte einer anderen Epoche an.
Viktor erinnerte sich an die Wohnung seiner Großmutter, bei der er aufgewachsen war, nachdem seine Eltern sich getrennt hatten und in verschiedene Gegenden gezogen waren. Die Wohnung in einem alten Haus auf der Tarasowskajastraße war auch altmodisch gewesen, aber damals hatte Viktor darüber nicht nachgedacht. Da hatte auch eine Kommode gestanden, nur etwas kleiner als die hier. Auf der Kommode ein kleiner Glasschrank, in dem die Großmutter ihren ganzen Stolz aufbewahrte: Porzellanvasen, die sie für besondere Erfolge bei ihrer Arbeit als Prämie bekommen hatte. Es waren fünf oder sechs Vasen, und auf jeder waren sorgfältig mit goldenen Buchstaben ihr Name, das Datum und eine kurze Erklärung, wofür sie diese Prämien erhalten hatte, eingraviert. Und hier genau solche gerahmten Fotografien, dieselbe Epoche, nicht die jüngste, sondern eine sehr ferne, die Vergangenheit eines Landes, das es nicht mehr gab.
Viktor ging zur Kommode. Auf den Fotografien, die die Buchrücken verdeckten, erkannte er Pidpalyj: einmal Pidpalyj mit einer Frau vor einem Hintergrund mit Palmen, drunter stand ›Jalta, Sommer 1976‹. Viktor betrachtete das Foto: Pidpalyj war ungefähr vierzig, fünfundvierzig, und die Frau mit lockigem Haar offensichtlich im selben Alter. Auf dem zweiten Foto stand Pidpalyj allein am Rand eines Wasserbeckens, aus dem der Kopf eines Delphins guckte. ›Batumi, Sommer 1981‹ lautete die Unterschrift.
Die Vergangenheit glaubt an Daten. Und das Leben jedes Menschen besteht aus Daten, die dem Leben ihren Rhythmus geben, das Gefühl eines stufenartigen Fortgangs, als könne man sich von der Höhe des Datums aus umdrehen, hinunterschauen und die eigene Vergangenheit sehen. Eine klare, verständliche Vergangenheit, Quadrate für die Ereignisse und Linien für die Wege.
In dieser Wohnung fühlte sich Viktor trotz der stickigen Feuchtigkeit gemütlich und sicher, vielleicht weil sie im Erdgeschoß lag. Diese Wände mit den verblassenden Tapeten, die staubbedeckten Lampenschirme und Fotografien hypnotisierten ihn förmlich.
Er setzte sich an den Tisch. Wieder mußte er an seine Großmutter Alexandra Wassilijewna denken, als sie schon alt war und mit einem Schemel auf die Straße ging, um vor dem Hauseingang ein wenig an der frischen Luft zu sitzen.
»Gebe Gott, daß ich nie gelähmt im Bett liegen muß«, sagte sie. »Ich würde dir das ganze Leben vermasseln, und du würdest keine Frau finden!« Viktor lachte damals. Aber die Großmutter kundschaftete trotz ihrer Gebrechlichkeit bei den Nachbarn die Telefonnummer eines Maklers aus, und ein paar Monate später besaß Viktor bereits eine Zweizimmerwohnung. Die Großmutter zog in eine Einzimmerwohnung im Erdgeschoß, wo sie still und unbemerkt starb. Die Sozialhilfe beerdigte sie, und die Nachbarn sammelten je drei Rubel für einen Kranz. All das erfuhr Viktor erst ein halbes Jahr später, als er aus der Armee zurückkam.
Er hatte Lust auf Tee und ging in die Küche. Draußen wurde es bereits dunkel. Er knipste das Licht an, und plötzlich fing der alte Eisschrank an zu brummen. Verwundert öffnete Viktor den Eisschrank und sah hinein: Da lag eine grünlich schimmernde Wurst und eine offene Dose Kondensmilch, die er herausnahm. In einer Blechdose fand er Tee.
Das Gefühl von Gemütlichkeit, einer fremden Gemütlichkeit, vermischte sich mit Unruhe. Viktor trank Tee mit der inzwischen dickflüssig gewordenen Kondensmilch. Von der Straße drangen Gesprächsfetzen der Vorübergehenden und das Geräusch vorbeifahrender Autos herein.
Irgendwas kratzte ihm im Hals, und er goß sich eine zweite Tasse Tee ein, trank sie und ging zurück ins Zimmer, machte dort Licht an. Er guckte ins
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