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Picknick auf dem Eis (German Edition)

Picknick auf dem Eis (German Edition)

Titel: Picknick auf dem Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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eine Arbeit?«
    »In der Zeitung… so was wie Interviews…«, fuhr der Dicke mit zitternder Stimme fort. »Ich habe in einer anderen Redaktion gearbeitet… aber hier zahlen sie besser…«
    ›So was wie Interviews?‹ dachte Viktor. ›Habe ich alle diese Monate »so was wie Interviews« geschrieben? Ist das die Wachablösung?‹
    Diese finstere Ahnung ließ ihn eine innere Kälte verspüren. Die lange unterdrückte alte Angst überfiel ihn wieder.
    »Und wozu das Foto?« fragte Viktor kalt.
    »Das war nicht unbedingt notwendig… Ich habe einfach viel von Ihnen erfahren… und ich wollte Ihr Gesicht sehen…«
    »Mein Gesicht?« wiederholte Viktor. »Wozu brauchst du mein Gesicht? Als ich ›so was wie Interviews‹ geschrieben habe, haben mich die Gesichter nicht interessiert… Zeig mir, was du geschrieben hast!«
    Der Dicke rührte sich nicht von der Stelle.
    »Ich darf nicht«, sagte er. »Wenn sie es erfahren…«
    »Niemand wird was erfahren!« unterbrach ihn Viktor.
    Der Dicke drehte sich um und ging durch den Flur ins Schlafzimmer, wo vor dem Fenster ein Schreibtisch mit einer Schreibmaschine stand. Links und rechts von der Maschine lagen ordentliche Papierstapel, und das Zimmer schien insgesamt übermäßig sauber. Nur die Luft war so stickig, als wären seit Monaten die Fenster nicht geöffnet worden.
    Der Dicke blieb vor dem Schreibtisch stehen, Viktor hinter seinem Rücken.
    Die Hände des Dicken zitterten. Er drehte sich um und sah Viktor an.
    »Komm, mach schon!« drängte ihn Viktor.
    Der Dicke seufzte tief, nahm einen blauen Aktenordner vom Tisch und zog einige Blätter heraus.
    »Das kurze, aber ereignisreiche Leben des Viktor Solotarew würde den Stoff für eine Trilogie abgeben, und zu gegebener Zeit wird so eine Trilogie sicher geschrieben werden. Aber jetzt müssen wir, gleichsam als traurige Anmerkung zu der zukünftigen Trilogie, einen Nekrolog für Viktor Solotarew schreiben.
    Man könnte ihn völlig zu Recht als einen erfolglosen Schriftsteller bezeichnen, wenn er sich nur mit literarischen oder journalistischen Aufgaben beschäftigt hätte. Aber bei seinem offensichtlichen Mangel an literarischem Talent besaß er ein Übermaß an Begabung anderer Art – die Begabung, Themen und Gattungen zu erschaffen. Er beschritt nicht den Weg älterer erfolgloser Schriftsteller, die sich in die ›stille‹ Politik begaben und jetzt friedlich auf ihren Abgeordnetensesseln schlummern, sondern fand aufgrund seines echten Interesses an der Politik einen recht ungewöhnlichen Einsatz für sein obenerwähntes Talent.
    Bis jetzt bleibt vieles in seinem Leben ein Rätsel. Ein Rätsel ist, wann er die Mitarbeiter der ›Gruppe A‹ für die staatliche Sicherheit kennenlernte. Aber seit dieser Bekanntschaft beherrschte Viktor Solotarew der Gedanke an die Notwendigkeit ›einer gesunden Säuberung‹ unserer Gesellschaft. Jetzt kann man nur einige Ergebnisse seiner völlig unerwartet beendeten literarisch-politischen Karriere aufzählen: 118   Ermordete oder unter verdächtigen Umständen umgekommene Menschen, die, wenn man westliche Analogien gebraucht, zu den VIP s gehörten, von Parlamentsabgeordneten bis zu Fabrikdirektoren und Ministern. Sie alle waren Menschen mit einer nicht ungetrübten Vergangenheit. Menschen, über die die ›Gruppe A‹ Dossiers angelegt hatte. Offensichtlich führte die Unmöglichkeit, diese Menschen zur Verantwortung zu ziehen, sei es aufgrund ihrer parlamentarischen Immunität, sei es aufgrund korrupter Gerichte, die ›Gruppe A‹ zu Viktor Solotarew. Seine Nekrologe, die noch zu Lebzeiten der Leute geschrieben wurden, waren quasi ein Auftrag, sie zu ermorden. In jedem der Nekrologe konnte man leicht eine Begründung für den Tod des Menschen finden, über den er geschrieben war.
    Ein idealer Schutz für ihn war seine Anstellung als externer Korrespondent unserer Zeitung, die ihm mit Unterstützung unseres seligen Kulturredakteurs anvertraut wurde.
    Vieles muß noch genauer recherchiert werden, aber schon jetzt kann man sagen, daß er mit den Nekrologen auf die zukünftigen Toten nicht nur die Basis einer sozialen Gerechtigkeit schuf, sondern auch das Datum und die Art des Todes bestimmte, manchmal allzu brutal. Die ballistische Expertise der Stetschkinpistole, mit der er sich erschossen hat, läßt vermuten, daß er auch persönlich zumindest an einer ›Säuberungsaktion der Gesellschaft‹ teilgenommen hat, denn mit dieser Pistole wurde der Abgeordnete Jakornitzkij

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