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Picknick auf dem Eis (German Edition)

Picknick auf dem Eis (German Edition)

Titel: Picknick auf dem Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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erschossen und bereits als Toter aus dem Fenster des sechsten Stocks geworfen.
    Auch Viktor Solotarews Privatleben glich eher einer literarischen Konstruktion als dem wirklichen Leben. Das einzige Wesen, dem er echte Zuneigung entgegenbrachte, war ein Pinguin. Viktor Solotarew vergötterte seinen Pinguin so sehr, daß er, als das Tier herzkrank wurde, die Transplantation eines Kinderherzens für ihn organisierte. Dafür kaufte er buchstäblich das Herz eines bei einem Autounfall tödlich verunglückten Jungen von den Eltern ab, ohne jegliche Fragen von Ethik und Moral in Betracht zu ziehen.
    Noch ein Rätsel bleibt für uns seine Verbindung zu den Spitzen der Verbrecherwelt, bei denen er unter dem Decknamen ›Pinguin‹ bekannt war. Unglaublich, wie oft er an den Beerdigungen der mit seiner Hilfe ermordeten Leute teilnahm. So schloß er einen eigentümlichen Kreislauf: von der Kenntnisnahme des Dossiers über die zukünftigen Toten bis zur Teilnahme an den Trauerfeiern der Freunde und Verwandten des Verstorbenen.
    Jetzt, wo die von ihm erfundene und ins Leben gerufene Operation einer ›Säuberung der Gesellschaft‹ öffentlich geworden ist, können wir nur hoffen, daß bald alle Details ans Tageslicht kommen. Ein parlamentarischer Ausschuß ist bereits dabei, diese Operation zu untersuchen. Der Führer der ›Gruppe A‹ ist entlassen, und obwohl der Name des Nachfolgers noch geheim ist, haben wir jeden Grund zu glauben, daß sich etwas Ähnliches nicht wiederholen wird. Keine der Gruppen und Organisationen, die sich mit der Staatssicherheit befassen, wird sich in Zukunft erlauben können, Selbstjustiz unter den Leuten auszuüben, selbst wenn es sich um Menschen handeln sollte, die vom Justizapparat nicht erfaßt werden.
    Viktor Solotarew hat keinen Beitrag für die Literatur unseres jungen Landes geleistet, aber sein Beitrag zur politischen Geschichte der Ukraine wird sicherlich zum Gegenstand vieler Untersuchungen nicht nur des parlamentarischen Ausschusses, sondern auch seiner Schriftstellerkollegen werden. Und wer weiß, vielleicht erweist sich das Schicksal eines solchen Romans als länger und erfolgreicher als das Schicksal von Viktor Solotarew.«
    Nachdem er zu Ende gelesen hatte, blickte Viktor dem Dicken in die Augen. Der sah ihn erwartungsvoll an, als ob er für seine Arbeit gelobt werden wollte.
    Viktor ließ die Blätter schweigend fallen. Plötzlich fühlte er sich unendlich erschöpft.
    Er erinnerte sich wieder an die Worte des Chefredakteurs. »Wenn du erfährst, was das alles bedeutet, wird man dich – und auch deine Arbeit – nicht mehr brauchen.«
    Seine linke Hand schien ihm ungewöhnlich schwer und erinnerte ihn an die Pistole. Jetzt wußte er die Marke. Eine Stetschkinpistole.
    Der Dicke beobachtete Viktor, und allmählich breitete sich Entsetzen auf seinem Gesicht aus. Seine Lippen bewegten sich, als wenn er zu sich selber spräche.
    »Nun, wie ist es?« fragte er schließlich vorsichtig, als er sah, daß Viktor erschöpft und weniger aggressiv war.
    »Was ist wie?« Viktor sah den Dicken müde an.
    »Nun… der Text…«
    »Trocken«, sagte Viktor. »Sehr trocken. Und der Anfang ist gräßlich, zeitungsmäßig… Hier, als Andenken!«
    Er überreichte dem verblüfften Dicken die Pistole. Der nahm sie mit beiden Händen, ohne Viktor aus den Augen zu lassen. Viktors rechte Hand fühlte sich wieder leicht an, als wenn er von einer Krankheit genesen wäre. So stark verspürte er die physische Erleichterung, als er dem Dicken die Pistole gegeben hatte. Dann drehte er sich um und verließ wortlos die Wohnung.
    75
     
    Bis um Mitternacht saß Viktor im Wartesaal des Hauptbahnhofs mitten unter Hunderten von Reisenden und hörte die dumpfen, krächzenden und unverständlichen Ansagen über ankommende und abfahrende Züge.
    Er fror in seiner Windjacke.
    Angst hatte er keine mehr, nicht weil er sich beruhigt hatte, und auch nicht, weil ihm alles egal war. Die Geräusche dieses lauten Ortes hatten ihn ein wenig zu sich kommen lassen, ihn nach dem Schock, den er beim Lesen seines eigenen Nekrologs bekommen hatte, wieder zum Leben erweckt, selbst wenn sein Lebensende nah und vorbestimmt war. Diese Leute, die sein zukünftiges Image erfunden hatten, hatten auch schon die Art seines Todes und das Datum des Selbstmords festgelegt. Da er sie nicht kannte, hätte er vor jedem Angst haben können, der sich neben ihn setzte oder an ihm vorbeiging. Aber das hatte keinen Sinn. Angst kann man nur empfinden, wenn

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