Picknick mit Bären
eröffneten reihenweise Motels, Restaurants, Tankstellen und Souvenirläden. 1987 hatte Gatlinburg 60 Motels und 200 Souvenirläden, heute sind es 100 Motels und 400 Souvenirläden. Und das Erstaunliche daran ist, daß daran absolut nichts erstaunlich ist.
Das muß man sich einmal klarmachen: Die Hälfte aller Bürohäuser und Einkaufszentren in Amerika wurde nach 1980 gebaut. Wohlgemerkt, die Hälfte. 80 Prozent der Wohnhäuser stammen aus der Zeit nach 1945. Von der Gesamtzahl aller Motelzimmer in Amerika sind 230.000 in den letzten 15 Jahren entstanden. Nur ein paar Kilometer hinter Gatlinburg liegt das Städtchen Pigeon Forge, das 20 Jahre zuvor noch ein verschlafenes Nest war – was sage ich, erst noch ein verschlafenes Nest werden wollte – und nur Berühmtheit erlangte, weil es die Heimatstadt von Dolly Parton ist. Dann errichtete die ehrenwerte Ms. Parton einen Vergnügungspark, Dollywood, und nun verfügt Pigeon Forge über 200 Einzelhandelsgeschäfte, die sich entlang eines fünf Kilometer langen Highways hinziehen. Pigeon Forge ist größer und noch häßlicher als Gatlinburg, hat aber bessere Parkmöglichkeiten und deswegen mehr Gäste.
Und nun vergleichen Sie das alles mal mit dem Appalachian Trail. Zu dem Zeitpunkt, als wir unsere Wanderung unternahmen, war der AT 59 Jahre alt, ein stattliches Alter für amerikanische Verhältnisse. Der Oregon Trail und der Santa Fe Trail sind nicht so alt geworden. Route 66 ist nicht so alt geworden. Und der ehemalige Lincoln Highways, eine Straße, die beide Küsten miteinander verband und Leben und bleibenden Wohlstand in viele Kleinstädte brachte, und die so berühmt und beliebt war, daß sie »America’s Main Street« genannt wurde, ist auch nicht so alt geworden. In Amerika wird nichts alt. Wenn ein Produkt sich nicht dauernd selbst neu erfindet, wird es abgeschafft, verdrängt, ohne Skrupel aufgegeben für etwas Größeres, Neueres und leider meist auch Häßlicheres. Und dann gibt es da den guten alten AT, der nach sechs Jahrzehnten immer noch still und bescheiden seine Aufgabe erfüllt, getreu seinen Grundprinzipien, sympathischerweise ohne sich darum zu kümmern, daß die Welt sich ein ganzes Stück weiterentwickelt hat. Eigentlich ein Wunder.
Katz brauchte neue Schnürbänder, wir gingen daher in einen Laden für Wanderausrüstung, und während er sich in der Schuhabteilung umtat, schlenderte ich ein bißchen herum. An einer Wand war eine Karte aufgehängt, die den gesamten Verlauf des Appalachian Trail durch alle 14 Bundesstaaten zeigte. Die östliche Meeresküste war seitenverkehrt dargestellt, so daß man den Eindruck bekam, der Trail habe eine genaue Nordsüd-Ausrichtung, was es den Kartographen ermöglichte, den Wanderweg in einem ordentlichen Rechteck unterzubringen, 15 Zentimeter breit, 1,2 Meter lang. Ich sah mir die Karte mit gierigem, geradezu besitzergreifendem Interesse an – es war das erste Mal, seit ich von New Hampshire aufgebrochen war, daß ich den Weg in seiner Gesamtlänge sah –, dann trat ich mit weit aufgerissenen Augen und heruntergefallener Kinnlade näher heran. Von der 120 Zentimeter langen Wanderkarte, die mir von den Knien bis ungefähr zum Scheitel reichte, hatten wir gerade mal die untersten fünf Zentimeter absolviert.
Ich ging los und suchte Katz, packte ihn am Arm, als ich ihn aufgestöbert hatte, und zog ihn hinter mir her zu der Pinnwand. »Was ist los?« sagte er.
Ich wies auf die Karte. »Na und?« Katz mochte keine Rätsel.
»Guck dir mal die Karte an, und dann guck dir an, wieviel wir gegangen sind.«
Er sah hin, er sah noch mal hin. Ich beobachtete ihn, während sein Gesicht ausdruckslos wurde. »Meine Fresse«, stöhnte er schließlich. Er wandte sich mir zu, Erstaunen stand ihm jetzt ins Gesicht geschrieben. »Wir haben ja noch überhaupt nichts geschafft.«
Wir gingen erstmal einen Kaffee trinken und blieben eine Zeitlang in fassungslosem Schweigen verharrend am Tisch sitzen. Was hatten wir nicht alles getan und erlebt – die ganzen Mühen und Strapazen, die Schmerzen, die Feuchtigkeit, die Berge, der grauenhafte pappige Nudelfraß, die Schneestürme, die langweiligen Abende mit Mary Ellen, die vielen, vielen nicht enden wollenden, zäh errungenen Kilometer – und alles summierte sich gerade mal zu fünf Zentimetern. Meine Haare waren in der Zeit mehr gewachsen.
Eins stand fest: Wir würden niemals bis Maine wandern.
In gewisser Weise war das befreiend. Wenn wir nicht den ganzen Weg wandern
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