Pilger Des Hasses
auch nicht? Allerdings hatte Cadfael die andächtig gefalteten Hände des Schneiders bemerkt; der Mann hatte die langen, gut gepflegten Fingernägel eines Jahrmarktsgauners, die einen Schneider bei der Arbeit sehr gestört hätten. Cadfael prägte sich die Gesichter ein: Das des Handschuhmachers war rund und glänzend, als hätte er es mit dem Fett eingerieben, mit dem er sonst das Leder behandelte; das des Schneiders war länglich und triefäugig mit langem Haar, das die Augen halb verdeckte; das des Hufschmieds war braungebrannt und zwinkernd, das Sinnbild eines gutmütigen Menschen.
Vielleicht waren sie, was sie zu sein vorgaben. Vielleicht auch nicht. Hugh würde aufpassen, und ebenso die vorsichtigen Wirte der Vorstadt und der Stadt, denn sie brannten nicht gerade darauf, Betrüger und Halsabschneider in ihren Schenken zu bewirten, die den Ortsansässigen das Fell über die Ohren zogen.
Als Cadfael nach dem Hochamt die Kirche mit seinen Brüdern sehr nachdenklich verließ, erwartete Rhun ihn schon im Herbarium.
Der Junge ließ Cadfaels Behandlung schweigend und ergeben über sich ergehen und sagte, von der respektvollen Begrüßung abgesehen, kein Wort. Der Rhythmus von Cadfaels forschenden Fingern, die geduldig die Muskelverhärtungen lockerten, die die Lähmung verursachten, hatte eine beruhigende Wirkung, auch wenn sie einmal so tief griffen, daß der Patient vor Schmerz zusammenzuckte. Der Junge hatte den Kopf an die Balken der Rückwand gelehnt und die Augen halb geschlossen. Die Spannung seiner Wangen und Lippen verriet, daß er nicht schlief, aber Cadfael konnte das Gesicht des Jungen genau mustern, während er ihn behandelte. Er bemerkte die Blässe und die dunklen Ringe um die Augen.
»Habt Ihr den Schlaftrunk genommen, den ich Euch gestern gab?« fragte Cadfael, doch er wußte die Antwort bereits.
»Nein.« Rhun öffnete besorgt die Augen, da er einen Vorwurf erwartete, doch Cadfaels Gesicht zeigte weder Überraschung noch Vorwurf.
»Warum denn nicht?«
»Ich weiß nicht. Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß es nicht nötig wäre«, erwiderte Rhun. Er hatte die Augen wieder geschlossen, um sein Verhalten und seine Motive genau zu betrachten. »Ich habe gebetet. Nicht, daß ich an der Kraft der Heiligen zweifle. Aber es schien mir plötzlich so, als brauchte ich gar nicht zu wünschen, geheilt zu werden... sondern eher, als könnte ich meine Lahmheit und meinen Schmerz aus freien Stücken aufgeben, nicht als Preis für eine Gunst, Die Leute bringen Opfer, aber ich habe nichts anderes anzubieten. Glaubt Ihr, daß das annehmbar wäre? Ich meine es in aller Demut.«
Kaum einer ihrer vielen Anbeter, dachte Cadfael, vermochte ein kostbareres Opfer darzubringen. Er ist einen langen, schweren Weg gegangen und hat schließlich erkannt, daß Entbehrung, Schmerz und Lahmheit gegen die innere Hinwendung zur Gnade und gegen einen tiefen Seelenfrieden nichts zählen.
Diese Ergebenheit kann jeder Mensch nur für sein eigenes Schicksal empfinden, niemals für das eines anderen. Der Kummer eines anderen darf nicht schweigend hingenommen werden, wenn es eine Möglichkeit gibt, ihn zu lindern. »Und habt Ihr gut geschlafen?«
»Nein. Aber das spielt keine Rolle. Ich lag die ganze Nacht wach und versuchte, mein Schicksal freudig anzunehmen. Ich war nicht der einzige, der keinen Schlaf fand.« Er war im Schlafsaal der Männer untergebracht, und unter seinen Gefährten mußte es, abgesehen von den Patienten mit ansteckenden Krankheiten, die Bruder Edmund isoliert hatte, noch einige andere geben, die auf die eine oder andere Weise ein schweres Los trugen. »Ciaran fand auch keine Ruhe«, sagte Rhun nachdenklich. »Als nach den Laudes alles still war, erhob er sich leise, um niemand zu stören, von seinem Lager und wollte zur Tür. Ich fand es seltsam, daß er Gürtel und Ranzen an sich nahm...«
Cadfael hörte gespannt zu. Warum nahm ein Mann, der sich des Nachts erleichtern mußte, sein ganzes Gepäck mit?
Allerdings gab es in solchen Gemeinschaftsunterkünften, auch wenn sie von Mönchen betrieben wurden, immer wieder Diebstähle, und Ciaran mochte auch im Halbschlaf daran gedacht haben.
»Wirklich? Und was geschah dann?«
»Matthew hatte sein Lager dicht neben Ciarans gezogen, und selbst in der Nacht hat er immer eine Hand zu ihm ausgestreckt. Außerdem scheint er es instinktiv zu bemerken, wenn Ciaran etwas quält. Er erwachte sofort und faßte Ciaran am Arm. Ciaran erschrak und keuchte und blinzelte wie
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