Pilger Des Hasses
entstellt. Cadfael tastete die Knoten ab und drang mit den Fingern tief ins verhärtete Gewebe ein.
»Da spüre ich etwas«, sagte Rhun. Er atmete tiefer. »Es fühlt sich nicht wie der andere Schmerz an - es tut etwas weh, aber es ist kein Schmerz, bei dem ich weinen müßte. Ein guter Schmerz...« Bruder Cadfael ölte sich die Hände ein, fuhr mit der Handfläche über die verkümmerte Wade und machte sich mit energischen Bewegungen ans Werk. Er bearbeitete Sehnen, die seit Jahren nicht belastet worden waren, abgesehen einmal von der Zehe, die nur unter starker Anspannung den Boden berühren konnte. Cadfael ging sanft und langsam vor und tastete nach den hartnäckigen Knoten.
Dort waren unnatürliche Verspannungen, die sich noch nicht lösen wollten. Er arbeitete sanft mit den Fingern und forschte mit dem Geist an anderer Stelle.
»Ihr wurdet früh verwaist. Wie lange seid Ihr schon bei Eurer Tante Alice?«
»Seit sieben Jahren«, sagte Rhun, fast eingeschläfert von den kreisenden Fingern. »Ich weiß, daß wir ihr eine Last sind, aber sie verliert kein Wort darüber, und sie läßt nicht zu, daß ein anderer etwas sagt. Sie hat ein gutgehendes, kleines Geschäft, das für ihre Bedürfnisse genug hergibt. Sie beschäftigt dort zwei Männer, aber reich ist sie nicht. Melangell arbeitet schwer in Haus und Küche und verdient sich ihren Lebensunterhalt. Ich habe das Weben gelernt, aber ich bin sehr langsam. Ich kann nicht lange stehen und nicht lange sitzen, und so bin ich ihr keine Hilfe. Aber sie verliert kein Wort darüber, obwohl sie eine scharfe Zunge haben kann, wenn sie dazu aufgelegt ist.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Cadfael friedfertig. »Eine Frau, die so viele Pflichten hat, mag ab und zu die Geduld verlieren, ohne daß es böse gemeint wäre. Sie hat Euch hergebracht, weil sie auf ein Wunder hofft. Wußtet Ihr das?
Warum sonst solltet ihr drei so weit wandern und Tag um Tag die Etappen an Eurer Geschwindigkeit messen? Und doch glaube ich, daß Ihr nicht mit einem Gnadenbeweis rechnet.
Oder bezweifelt Ihr gar, daß St. Winifred Wunder tun kann?«
»Ich?« Der Junge erschrak. Er schlug die Augen auf, die klarer waren als der östliche Teil des Mittelländischen Meeres, in dem Cadfael vor langer Zeit gefahren war. »Oh, da irrt Ihr Euch. Ich glaube es schon. Aber warum sollte sie es gerade für mich tun?
Menschen wie ich kommen zu Tausenden. Wie darf ich da erwarten, zu den Glücklichen zu gehören? Außerdem kann ich mein Los ertragen. Es gibt viele, die nicht ertragen können, was ihnen auferlegt wurde. Die Heilige wird schon wissen, wen sie auserwählt. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß ihre Wahl auf mich fällt.«
»Warum wart Ihr dann bereit, herzukommen?« fragte Cadfael.
Rhun wandte den Kopf ab, und blau geäderte Augenlider verhüllten gleich einer Anemonenblüte seine Augen. »Man wünschte es, und ich tat, was sie verlangten. Und dann war da Melangell...«
Ja, die hübsche, dem Auge so gefällige Melangell, dachte Cadfael. Ihr Bruder wußte um ihre Armut und wünschte ihr ein wenig Freude und eine gute Partie; denn daheim, wo sie in Haus und Küche hart arbeiten mußte und als mittellose Nichte bekannt war, gab es keine Freier. Aber auf einer so weiten Reise, auf der man vielerlei Gesellschaft fand, mochten sich Gelegenheiten ergeben.
Rhun hatte sich bewegt und einen Muskel angespannt, der ihn zwickte, und nun lehnte er sich unter Schmerzen vorsichtig zurück. Cadfael zog dem Jungen die selbstgewirkte Hose über die Blöße, knotete sie fest zu und zog ihn sanft auf die Füße, auf den gesunden und den verkrüppelten, bis er auf dem Boden aus gestampfter Erde stand.
»Kommt morgen nach dem Hochamt noch einmal zu mir, denn ich glaube, daß ich Euch helfen kann, wenn auch nicht viel.
Und nun bleibt hier sitzen. Ich will sehen, ob Eure Schwester schon zurück ist, und wenn nicht, könnt Ihr bleiben, bis sie kommt. Ich werde Euch auch einen Trank geben, den Ihr heute abend vor dem Einschlafen zu Euch nehmen könnt. Er wird Eure Schmerzen lindern und Euch zu Schlaf verhelfen.«
Das Mädchen wartete schon draußen, still und allein gegen die sonnengewärmte Mauer gelehnt, und ihr strahlendes Gesicht war verdüstert, als hätte sich etwas freudig Erwartetes als böse Enttäuschung erwiesen; doch als sie Rhun aus der Hütte kommen sah, erhob sie sich und begrüßte ihn mit einem resoluten Lächeln, und als die beiden sich langsam entfernten, klang ihre Stimme so fröhlich
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