Pilgern auf Französisch
sieht.«
Schwester Odile zieht das nächste Blatt heraus.
»>Lieber Pater, betet für Ramzi, dass er einmal lesen und schreiben lernt. Betet für Ramzis Mutter, dass sie die Miete bezahlen kann, obwohl sie mir alle ihre Ersparnisse gegeben hat, damit ich mit ihrem Sohn nach Santiago-Mekka pilgern kann. Betet, dass sie mich nicht in der Luft zerreißt, wenn wir zurückkommen. Betet vor allem dafür, dass das Mädchen, das ich liebe, mich auch liebt.< Oh la la, der ist ja wirklich völlig gestört.«
»Was ist denn das, Santiago-Mekka?«
»Weiß ich nicht.«
»Überspringen wir es?«
»Ja, überspringen wir es.«
Schwester Odile wirft den Zettel in den Papierkorb, Schwester Claudette fischt ein weiteres Gebet aus der Urne.
»>Betet dafür, dass mein Krebs nicht mehr zurückkommt und mein Mann auch nicht.<«
Heute sind die Gebete der Pilger wirklich ziemlich schräg.
»Das mit dem Krebs können wir vorlesen, aber das mit dem Mann...«
»Soll ich den Mann weglassen?«
»Ungern... Es sind ja wirklich arme Leute.«
»Ja, aber wir können doch bei der Messe nicht lesen: >Betet dafür, dass mein Mann nicht mehr zurückkommt<...«
»Hm, nein...«
»Vielleicht ist ihr Mann ja ein Taugenichts...«
»Vielleicht hat sie seinetwegen Krebs bekommen...«
»Ja, vielleicht... Was machen wir jetzt?«
»Schreiben wir: >Betet für meine Heilung, betet für meine Nächstens«
»Nein, zuerst: >Betet für meine Nächstem und dann: >Betet für meine Heilung.<«
Mit Großbuchstaben schreibt Schwester Claudette den ein wenig, aber nicht übermäßig, zensierten politisch korrekten Satz nieder, damit er bei der nächsten Pilgermesse von Pater Dumas, dem Pater mit den schlechten Augen, verlesen werden kann...
Als die Gruppe von der Kathedrale aus die gewundene Rue des Tables in die Stadt hinuntergeht, sieht Guy, dass Claude keinen Rucksack trägt.
Guy fragt nach, ob er ihn im Hotel vergessen hat, aber Claude hat nichts im Hotel vergessen. Claude trägt seinen alten schwarzen Leinenanzug, der einmal richtig schick war, nun aber aussieht wie ein Scheuerlappen; sonst trägt er gar nichts.
Guy ist entsetzt.
»Aber wie stellen Sie sich das vor?«
»Weiß auch nicht... Ich wusste das mit dem Rucksack nicht.«
»Aber die Liste zum Rucksackpacken — ich habe Ihnen doch die Liste gegeben.«
»Sie haben mir eine Liste gegeben?«
»Ja, damals beim Anwalt, beim Anwalt habe ich jedem von Ihnen eine Liste gegeben, allen dreien...«
»Hm, kann sein.«
»Aber Claude — das kann nicht nur sein, das war so! Ganz sicher. Sie wissen doch, dass wir zweieinhalb Monate unterwegs sind... Das ist ohne Rucksack unmöglich. Sie brauchen doch das eine oder andere Stück für unterwegs. Sie brauchen richtige Schuhe, in diesen werden Ihnen die Füße wehtun...«
»Ach nein. Das sind ganz tolle Turnschuhe, ich habe sie schon vier Jahre.«
»Und wenn es regnet — haben Sie ein Cape? Und Unterhosen zum Wechseln?«
»Hm, dann muss ich mir eben auf dem Weg etwas besorgen.«
»Claude, wir laufen nicht über die Landstraße, sondern über Pilgerwege, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Da gibt es nicht an jeder Ecke Läden und Supermärkte, verstehen Sie?«
»Vielleicht kann mir jemand etwas leihen.«
Zu solch himmelschreiendem Leichtsinn fällt Guy nichts mehr ein.
Said und Ramzi bilden die Nachhut und unterhalten sich leise.
Ramzi spürt, dass irgendetwas nicht ganz mit der Vorstellung übereinstimmt, die er sich von einer Pilgerreise nach Mekka gemacht hat.
»Sag mal, Said, warum sind denn außer uns zwei keine Araber in Gruppe?«
Getrieben von einem hehren und zwingenden Motiv, der Liebe, antwortet Said und lügt dabei, dass sich die Balken biegen.
»Aber wir sind doch gar nicht die einzigen Araber...«
Mathildes Anblick, die mit Kopftuch vor ihnen geht, beflügelt ihn zu wilden Behauptungen.
Said: »Da ist Mathilde, siehst du? Sie trägt einen Schleier.«
Ramzi: »Ja, aber eigentlich müssten doch viel mehr Araber nach Santiago-Mekka gehn, meinste nich auch?«
Said: »Nein, nein! Zurzeit wollen alle Leute dorthin.«
Ramzi: »Ja? Was is denn dort so toll?«
Ramzi fährt gern mit dem Schiff. Dann steht er an Deck und lässt sich die Meeresbrise um die Nase wehen, vor ihm erstreckt sich ein Ozean voll freundlicher Delfine, und die Dünung wiegt ihn wie einst die Arme seiner Mutter mit den kajalumrandeten Augen...
Auch Said lässt sich dazu hinreißen, vom Schlaraffenland zu träumen, von einem Land ohne Beton und ohne
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