Pilgern auf Französisch
auf diesen Weg. Für einige erfüllt sich ein Lebenstraum, manche brauchen dies zur inneren Genesung, andere erholen sich nach jahrelangem Arbeits- oder Familienstress, Jüngere sehen darin ein Abenteuer und eine Möglichkeit, andere Menschen kennenzulernen — jedenfalls ist es für alle eine Auszeit, verbunden mit der Hoffnung, verändert zurückzukehren.
Camille und Elsa sitzen ganz hinten in der Kirche, abseits von den anderen.
Hinter ihnen macht Clara in Selbstgesprächen ihrem Ärger über die Geistlichen Luft, noch angespornt von der Heiterkeit, die sie bei den beiden Frauen auslöst.
»Also wirklich! Jetzt seht euch doch nur mal diesen Pfaffen und seine Hausmütterchen an! Genau das ist die katholische Kirche: ein riesiger Verein von Pädophilen und unterwürfigen Frauen. Durchschnittsalter fünfundsiebzig, grob geschätzt... Präser sind verboten, auch wenn es mittlerweile weltweit bald fünfzig Millionen Aidstote gibt... Aber das juckt diesen Schwanz von Papst ja nicht. Er schwenkt sein Kruzifix, sammelt die Kohle ein, und die Banker des Vatikans zocken an der Börse...«
Elsa und Camille prusten vor Lachen.
Der Priester: »... und nun dürfen Sie Ihre Gebete in diese Urne legen, sie werden bei der nächsten Messe verlesen. Hier finden Sie Papier. Dann dürfen Sie in der Sakristei Ihre Pilgerausweise abholen.«
»Allahu akbar«, murmelt Ramzi ehrfürchtig.
Der Priester geht den Pilgern in die Sakristei voraus und erklärt, dass die Ausweise je fünf Euro kosten.
Mathilde nimmt ein Blatt Papier und schreibt ein Gebet nieder. Said tut dasselbe, er schreibt in Schönschrift. Ramzi tritt zu ihm.
»Was schreibste denn da?«
»Nichts, nur ein kleines Gebet, das später verlesen wird.«
»Kannste mir auch eins schreiben?«
»Ja, was soll ich denn schreiben?«
»Schreib: >Betet, dass meine Mutter am Ende vom Monat die Miete bezahlen kann, denn sie hat ihrem Sohn alles Geld gegeben, damit er nach Santiago-Mekka pilgern kann.< Haste das?«
»Ja. Am Monatsende die Miete...«
»Schreibste auch wirklich alles?«
»Ja, alles.«
Mathilde und Said legen die Gebete in die Urne und kehren zu ihrer Gruppe zurück, die auf dem Weg in die Sakristei ist.
Hinter einer Säule beobachtet Clara die Schreibenden aus den Augenwinkeln.
Als sie dann allein in der Kirche ist, vergewissert sie sich, dass niemand sie beobachtet, kritzelt einige Worte auf ein Stück Papier und steckt es verstohlen in die Urne.
Die Gruppe hat sich vor dem Portal der Kathedrale versammelt, die über Le Puy thront. Guy deutet nach Westen — dort liegt Santiago de Compostela.
Im fahlen Morgenlicht wirken die Hügel, die Le Puy im Westen umgeben und von dem dunklen Stein des Portalvorbaus eingerahmt werden, wie ein blaustichiges Gemälde mit grünen Weiden und alten Häusern. Jeder malt sich aus, was dahinter liegt, jenseits davon, immer weiter nach Westen, immer weiter in die Ferne, bis ans Ende des europäischen Kontinents. Jeder versucht sich die eintausendsechshundert Kilometer vorzustellen, die ihn von Santiago de Compostela trennen.
Doch der Weg, der sie nach Santiago führt, wird mit einem anderen Maß gemessen als in Kilometern.
Sie steigen die Stufen wieder in die Stadt hinunter.
In der Sakristei sitzen Schwester Odile und Schwester Claudette an einem alten Eichentisch, sie holen die Gebetszettel aus der Urne und lesen sie laut vor.
»>Betet für mich, die ich meine Mutter verloren habe, betet für meine Schüler, dass sie während meiner Abwesenheit gut lernen, betet für meinen Mann, dass er wieder Arbeit findet, denn wenn er weiterhin arbeitslos ist, wird er krank werden und sterben.< Können wir damit etwas anfangen?«
»Ich weiß nicht...«
»Sollen wir das mit der Arbeitslosigkeit streichen?«
»Ja, keine Politik. Es soll nur heißen: >Betet für meinen Mann...<«
»>Betet für meinen Mann, der...«
»>... der krank ist.<«
»Er ist aber nicht krank, er ist arbeitslos.«
»Das ist doch das Gleiche.«
»Na ja, noch nicht...«
»Das wird schon noch kommen.«
»Und die Schüler?«
»Hm, das mit den Schülern wird zu kompliziert. Lassen wir es einfach weg und lesen nur den Anfang vor.«
»>Betet für mich, die ich meine Mutter verloren habe«
»Nein: >Betet für die Seele meiner Mutter.< >Betet für mich< ist zu egoistisch.«
»Gut.«
Brav schreibt Schwester Claudette das Gebet neu.
»>Betet für die Seele meiner Mutter.< Ich schreibe alles in Großbuchstaben, weil Pater Dumas so schlecht
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