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Pilgern auf Französisch

Pilgern auf Französisch

Titel: Pilgern auf Französisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Coline Serreau
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schrecklich!«
    »Was ist schrecklich?«
    »Na, wir gehen doch gar nicht dorthin.«
    »Ja, aber Ramzi... Er ist ein bisschen... na, du weißt schon, ein bisschen...«
    »Gaga?«
    »Nein, er ist einfach ein wenig zurückgeblieben, wenn du so willst.«
    »Er ist nicht zurückgeblieben. Morgen bringe ich ihm das Lesen bei, wenn sich eine Gelegenheit ergibt.«
    »Ach, das wäre schön!«
    »Aber warum wanderst du nach Santiago?«
    »Na, weil ich... weil ich jemanden kenne, der auch dorthin wandert.«
    »Wen?«
    »Was? Ach, jemand eben... Und wie bist du dazu gekommen?«
    »Mein Onkel hat mir die Reise zum Schulabschluss geschenkt, er hat mich und meine Kusine dazu eingeladen. Hat dir Ramzis Mutter Geld gegeben?«
    »Ja, ein bisschen...«
    »Um nach Mekka zu pilgern?«
    »Ja.«
    »Aber Said, ist das nicht glatter Betrug, was du da durchziehst?«
    »Ich? Nein, gar nicht.«
    Camille ist ganz verstört, weil Said ihr so gut gefällt.
    Doch sie fürchtet ihn auch wie die Pest, sie spürt, dass er schon monatelang um sie herumschleicht. Die anderen Jungs in seinem Alter wollen mit ihr ausgehen, sprechen sie an und flirten mit ihr, aber Said unternimmt gar nichts. Er ist einfach da, immer nur da, und er ist so schön, dass man in Ohnmacht fallen könnte, aber er tut nichts, er spricht sie nicht an, er vertreibt die anderen und sorgt dafür, dass sie allein ist. Sie träumt oft von ihm und fühlt sich wohl in seiner Nähe. Gleichzeitig würde sie ihn am liebsten zum Teufel jagen, so sehr verabscheut sie ihn. Eine vertrackte Sache.
    Said stirbt vor Liebe, wenn er nicht bei ihr ist, und sobald er bei ihr ist, benimmt er sich wie ein entfernter Bekannter. Er muss sein Herz verhärten, damit der Strom seines Verlangens ihn nicht mitreißt. Er beobachtet Camille schon seit Monaten, er weiß, wie stark und unabhängig sie ist, er weiß, dass der gespannte Faden, der sie verbindet, beim kleinsten Fehler reißen kann. Sie ist nicht im Geringsten eingebildet, sie bewegt sich ganz einfach durchs Leben wie ein Ozeandampfer, der den Wellen trotzt. Sie hat keine Ahnung, wie atemberaubend schön sie ist. Said aber kennt jede Rundung ihrer Hüften, ihrer Brust, und wenn sie mit ihm spricht, vergisst er oft, ihr zuzuhören, stattdessen betrachtet er dann ihre unvergleichlich rosige, zarte Haut, ihre glatten Wangen und ihre Augen, deren Farbe er immer noch nicht benennen kann, denn manchmal sind sie grün, manchmal golden.

    Ein Stück entfernt unterhalten sich Elsa und Ramzi und lernen sich besser kennen.
    »Kennste Camille schon lange?«, fragt Ramzi.
    »O ja, seit ich ganz klein war.«
    »Aber du wohnst nich in unser Viertel?«
    »Nein, meine Mutter war eine Freundin von Camilles Mutter.«
    »Und wo wohnste?«
    »In der Nähe der Metrostation Solférino.«
    »Solférino? Is das im neun-drei Département?«
    »Nein, im siebten Arrondissement.«
    »Was gibt’s denn für große Städte im Siebten?«
    »Im Siebten? Hm, also... da gibt es keine Städte, umgekehrt: Das siebte Arrondissement liegt in einer Stadt, in Paris.«
    »Ach! Du wohnst in Paris?«
    »Ja. — Wanderst du gern?«
    »Ja, total. Und vielleicht sehn wir ja auch Kühe.«
    »Ja, die werden wir sicherlich sehen... Weißt du, warum Said mitgekommen ist?«
    »Wir pilgern nach Mekka.«
    »Hat Camille gewusst, dass ihr mitkommt?«
    »Nein, wir wollten sie überraschen.«
    Elsa blickt nicht durch in diesem ganzen Durcheinander. Der Gedanke, ihre Freundin hätte heimlich ihren Typ eingeladen, ohne ihr etwas zu sagen, nervt sie tierisch. Wenn das so wäre, dann hätte sie, Elsa, auch einen Typ mitkommen lassen können.
    Ramzi ist süß, aber ein bisschen daneben. Tut er nur so, als sei er unterbelichtet, oder ist er es wirklich? Nicht ganz richtig im Kopf? Jedenfalls ist er nett und nicht so ein Macho, zumindest noch nicht... Das wird sich ja dann im Umgang erweisen.

    Die Gruppe marschiert nun seit Stunden, die Sonne brennt.
    Pierre, der sich besonders elend fühlt, bleibt stehen und fährt Guy barsch an: »He, sagen Sie mal, Monsieur, wie lange latschen wir jetzt eigentlich schon durch die Gegend?«
    »Gut drei Stunden.«
    »Und wann essen wir?«
    »In einer Dreiviertelstunde bis Stunde.«
    »O nein, ich wandere keine Stunde mehr, ohne etwas zu essen.«
    »Wollen Sie eine kurze Rast einlegen?«
    Laut stimmen alle dem Vorschlag zu, eine kurze Pause einzulegen.
    Guy hat eine Wiese über einem grünen Tal entdeckt. Virtuos künden die Vögel von ihrer beschwerlichen oder freudigen Existenz

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