Pilgern auf Französisch
Demütigungen, einem Land, wo die Saids und Mohammeds dieser Welt unter sich sind.
»Weißt du, dort muss niemand Miete bezahlen, dort scheint immer die Sonne, es geht einem gut, man arbeitet ein bisschen, dann ruht man sich lange aus... Dort können alle lesen, auch diejenigen, die ein bisschen plemplem sind...«
Ramzis Gesicht verfinstert sich. Saids Traum ist wie ein Hammer auf den Pfahl in Ramzis Herz gesaust.
»Ich weiß, dass ich plemplem bin, das brauchste mir nich sagen.«
»Ich habe nie gesagt, dass du plemplem bist.«
»Haste doch.«
»Ich habe gesagt, dass dort alle Leute lesen können. Habe ich etwa was anderes gesagt? Dort gäbe es vielleicht jemanden, der es dir beibringen könnte, mehr habe ich nicht gesagt... Und überhaupt — wen sollte es denn stören, dass du nicht lesen kannst? Nein, ohne Spaß — wen stört es, dass ein Kerl wie du nicht lesen kann?«
Ramzi bleibt stehen und blickt Said fest in die Augen:
»Meine Mutter.«
Der kleine Trupp befindet sich nun außerhalb von Le Puy-en-Velay auf dem Hügel, den die Pilger zuvor vom Westportal der Kathedrale aus gesehen haben — ein Felskegel, der viel von seinem Liebreiz verliert und sich in eine beschwerliche Steigung von zwanzig Prozent verwandelt, wenn man sich erst einmal an den Aufstieg gemacht hat und einem die Zunge aus dem Hals hängt.
Ein schweißtreibender Beginn für ungeübte Neulinge.
Etwa zwanzig Meter hinter den anderen klebt Pierre keuchend mit dem Ohr am Handy.
Er fragt leise: »Sind Sie da, Robert?«
Robert ist bester Laune, er sitzt irgendwo in der Stadt im BMW seines Chefs und liest gerade sein Horoskop.
»Ja, ich bin da, Chef.«
»Und was machen Sie?«
»Ich suche Sie, Chef... Ich weiß nicht, wo Sie sind.«
»Dann sputen Sie sich mal, mein Alter! Erkundigen Sie sich, halten Sie sich ran!«
»Ich erkundige mich, ich halte mich ran, Chef.«
»Fragen Sie nach dem Weg, dem Jakobsweg.«
»Dem Jakobsweg...«
»Hier in Le Puy kennt den sicherlich jeder.«
»Ja, sicherlich kennt den in Le Puy jeder — aber kann man auf dem Jakobsweg auch mit dem Auto fahren?«
»Selbstverständlich kann man da mit dem Auto fahren, ich bin ja hier, ich stehe auf einer geteerten Straße an einem Hang. Machen Sie schnell, Robert, ich habe die Nase voll, das ist schrecklich steil.«
»Verstehe, Chef, der ist schrecklich steil.«
Roberts Taktik — »Wiederhole alles, was der Chef sagt« — erspart es ihm zwar meistens, tätig zu werden, dieses Mal aber muss er handeln und diesen verdammten Weg finden. Mit Bedauern legt er sein Horoskop zur Seite — dass er diesen Sommer unvergessliche Ferien in der Sonne verbringen und die Liebe seines Lebens finden werde — und macht sich auf die Suche nach seinem Chef.
Clara geht ein paar Schritte vor Pierre und unterhält sich mit Mathilde, kann aber immerzu nur an ihren Bruder und dessen Telefoniererei denken.
»Sehen Sie sich nur diesen Schwachkopf an, ständig hängt er am Telefon! Das ist mein Bruder. Er macht gerade Börsengeschäfte... Unternehmen Sie oft Pilgerreisen?«
»Ja, im Grunde schon. Aber ich war nun einige Monate nicht mehr unterwegs, weil ich...«
Gerade als Mathilde, die froh ist, eine Weggefährtin gefunden zu haben, sich ein wenig öffnen und über sich sprechen will, über ihre Krankheit, die monatelange Chemo, da unterbricht Clara sie brüsk.
»Also, schauen Sie sich das mal an! Ich glaub’s nicht! Da kommt sein Wagen. Er hat gar nicht an der Börse spekuliert, sondern seinen Chauffeur angerufen. Dieser Hund! Er will im BMW den Hügel hinauffahren.«
Mathilde steht allein da mit ihrem abgeschnittenen Wort, mit ihrem Satz, der mitten im Flug gebremst und im Sturm von Claras Hass mitgerissen wurde.
Robert hatte es tatsächlich geschafft, seinen Chef ausfindig zu machen, und fährt nun auf ihn zu. Erleichtert öffnet Pierre ganz leise die Wagentür und wirft seinen Rucksack auf die Rückbank.
Empört über so viel Trägheit und über Pierres widerwärtiges Schummeln, brüllt Clara ihm zu: »He, wenn du glaubst, ich hätte nicht gesehen, wie du deinen Rucksack ins Auto gelegt hast, bist du schiefgewickelt! Dir muss man wohl immer eine Extrawurst braten, was? Nicht mal einen Rucksack kannst du tragen, du Waschlappen!«
Pierre schlägt die Wagentür heftig zu und weist den Chauffeur an: »Warten Sie oben auf dem Hügel auf mich!«
Robert spürt in Gestalt dieser starken Frau, die es wagt, seinen Chef derartig zu beleidigen, eine große Gefahr auf sich zukommen
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