Pilgern auf Französisch
und braust davon.
Pierre stellt sich mitten auf die Straße, holt tief Luft und feuert seine ganze Munition gezielt in sechs kurzen Worten ab: »Halt-die-Schnauze-du-fettes-Schwein!«
Diese Beleidigung trifft Clara mitten ins Herz; wahrscheinlich erinnert sie sich an die Beschimpfungen, die sie als Kind wegen gestohlener Murmeln oder schlecht geteilter Schokoladetafeln von ihrem Bruder anhören musste — von diesem Bruder, der stinkreich ist, der keine Kinder und keine Sorgen hat und von dem sie sich so oft ein wenig Trost gewünscht hätte.
Nun verspürt sie nur noch Wut. Und Lust zu töten.
Sie stürmt so schnell den Hang hinab, dass nichts auf der Welt sie noch aufhalten könnte.
Pierre steht wie erstarrt da und sieht die Furie auf sich zurasen, er ist wie gelähmt, wie damals, als er zehn Jahre alt war und Clara neun und sie ihn trotzdem noch bei jeder Rauferei besiegte.
Sie prallt gegen ihn und schlägt ihm mitten ins Gesicht. Und was für ein Hieb!
Pierre brüllt, der Kampf beginnt.
Die Kombattanten wälzen sich auf dem Asphalt, rollen ineinander verkeilt herum, sie wollen sich gegenseitig die Augen auskratzen, die Finger in die Nasenlöcher stecken. Unter lauten Flüchen und Beschimpfungen hagelt es Schläge, die Kleider reißen, die Haare auch. Wie auf dem Schulhof.
Der Rest der Gruppe ist bestürzt stehen geblieben.
Guy eilt auf die Streithähne zu, versucht sie zu trennen. Pierre und Clara aber wollen nicht getrennt werden, sie werfen Guy in hohem Bogen aus dem Ring raus.
Guy nimmt erneut Anlauf, geht dazwischen, fällt, und nun wälzt auch er sich herum, während er Clara aufhalten will, die auf dem Bauch ihres Bruders kniet und ihn mit den Fäusten bearbeitet.
Clara und Guy, beide behindert durch ihre Rucksäcke, die hin und her schwingen, sehen aus wie dicke Schildkröten. Dennoch gelingt es Guy, Bruder und Schwester zu trennen. Den einen hält er rechts, die andere links am ausgestreckten Arm. Doch Clara und Pierre sehen Guy in ihrem blinden Hass gar nicht, sie drohen einander.
»Ich schlag dir eine rein!«
»Dann komm doch, mach schon, du blöder Hund!«
Und der blöde Hund, mit bürgerlichem Namen Pierre, holt mit aller Kraft zu einem Schlag aus, der laut klatschend auf Guys Backe landet.
Da reißt der Film, etwas stimmt nicht, alle erstarren, das war so nicht vorgesehen.
Nach kurzer Erholung strafft sich Guy und explodiert.
»Das darf ja wohl nicht wahr sein, dass Sie sich derartig prügeln! Sind Sie eigentlich völlig übergeschnappt? Unter solchen Umständen mache ich Ihnen nicht den Coach, das kann ich Ihnen sagen! Verstanden? Sie können sich anschreien, wenn Ihnen das hilft, aber geschlagen wird hier nicht! Ich trage die Verantwortung, ich muss eine Gruppe nach Santiago führen, die Leute haben dafür bezahlt, und ich führe sie dorthin, basta. Ich lasse nicht zu, dass jemand in meiner Gruppe Chaos verbreitet. Wir müssen zweieinhalb Monate miteinander auskommen, und darum wird hier nicht schon am ersten Tag die Sau raugelassen — klar?!«
Schweigen im Walde.
Guy hat die Wogen mit seiner Autorität geglättet, mit Wut im Bauch marschiert er weiter und hält sich die Backe.
Clara und Pierre haben sich wieder gefasst, sie schämen sich und sind ganz zerknirscht.
Die Gruppe folgt Guy, die Reise beginnt.
Claude, ganz liebenswürdig, will sich bei Guy einschmeicheln.
Mit säuselnder Stimme fragt er: »Und wie machen wir das jetzt mit dem Essen?«
DER WEG IST NUN eindeutig nicht mehr geteert. Wie eine rote Schlange windet er sich über Felskegel, die aus grünen Wiesen aufragen. Es geht steil bergan. Im Velay geht es auf und ab, aber im Großen und Ganzen geht es bergauf. Keiner in der Gruppe hat Übung, und keiner hat mit so vielen Steigungen gerechnet.
Am Schwanz des Zugs schleppt sich Pierre schwitzend weiter; er musste sich von seinem Chauffeur verabschieden und seinen Rucksack wieder in Empfang nehmen.
Claude geht vor Pierre, er schlägt sich ganz wacker, aber er hat ja auch nichts zu tragen.
Clara gibt sich Mühe, mit den Jüngeren mitzuhalten, die hinter ihr marschieren; sie leidet. Guy und Mathilde gehen an der Spitze, Camille kurz dahinter. Said holt sie ein.
»Mannometer, bist du fit!«
»Es geht. Sag mal, was ist denn das für eine Geschichte mit Mekka?«
»Das ist wegen Ramzi. Er denkt, wir pilgern nach Mekka.«
»Aber wir gehen doch gar nicht nach Mekka.«
»Nein, aber seine Mutter wollte es so, damit er lesen lernt.«
»Aber... das ist ja
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