Pilgern auf Französisch
dem Rücken. Gleich erspäht er die hübsche Elsa, die an einem Tisch sitzt und vor sich hin döst. Laut schlägt er mit der Faust auf den Tisch, um sie aufzuwecken. Elsa fährt hoch.
»Entschuldigen Sie, ist die Herberge offen?«
»Im Prinzip ja, aber im Moment ist sie noch geschlossen, sie macht erst in einer Viertelstunde auf.«
»Aha. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
Elsa: »Nein, danke. Das ist nett, aber ich habe gerade etwas getrunken.«
»Ist das Ihre Ausrüstung?«
Elsa: »Ja.«
»Damit werden Sie den Jakobsweg aber nicht schaffen.«
Elsa: »Äh, warum? Ich bin schon seit einem Monat unterwegs.«
»Das ist ja Vorkriegsmaterial!«
Elsa: »Ach ja? Und woher kommen Sie?«
»Ich starte heute, ich mache nur den spanischen Weg, den interessanten Teil des Jakobswegs.«
Pierre und Clara sehen ihn an.
Clara denkt: Vielen Dank auch für die achthundert Kilometer, die wir hierherlatschen mussten!
Wenn Clara im Geist mit sich selber spricht, drückt sie sich gar nicht wie eine Lehrerin aus.
Elsa: »Der französische Teil ist auch schön.«
»Das weiß ich nicht, ich war noch nicht dort.«
Elsa: »Aber ich. Und er ist wirklich sehr...«
»Wann brechen Sie denn morgens immer auf?«
Elsa: »Gewöhnlich gegen acht.«
»Ich gehe Punkt fünf Uhr los. So komme ich nicht in die Mittagshitze und bin immer als Erster in der Herberge.«
Elsa: »Ja, in den Herbergen ist oft sehr viel los. Aber wir sind in der Gruppe unterwegs, wir laufen nicht allzu schnell, wir gehen es ruhig an...«
»In Ihrer Gruppe sind wohl viele Opas und Omas. Das bremst, was?«
Der junge Mann meint damit offensichtlich Pierre und Clara, die ihm einen tödlichen Blick zuwerfen.
Pierre denkt: Gibt es das? Gibt es solche kleinen Arschlöcher wirklich?
Auch Pierre drückt sich alles andere als vornehm aus, wenn er mit sich selbst redet.
Elsa: »Na ja, es gibt junge Leute und weniger junge Leute. Das ist doch ganz normal.«
»Gruppen sind nicht so ganz mein Ding. Ich betrachte eine Pilgerwanderung eher als einen Einzelkampf, eine Herausforderung, ich will meine Kräfte messen, mich mit der Natur auseinandersetzen...«, sagt er und stiert auf Elsas Ausschnitt.
Elsa: »Und ist Ihr Rucksack nicht zu schwer?«
»Mein Rucksack? Nein, nein, ich habe alles bei Decathlon besorgt. Innovatives, ultraleichtes Material.«
Elsa: »Das haben Sie gut gemacht. Am Anfang war mein Rucksack viel zu schwer, ich hatte Shampoo und Cremes dabei, einen ganzen Haufen Zeug. Ein Höllengewicht, ich bin fast zusammengebrochen, ich musste alles wegwerfen. Wissen Sie, beim Wandern ist das Gewicht...«
»Ja ja, typisch Mädchen! Cremes und Shampoo! Dabei brauchen doch gerade Sie gar nichts — Sie müssen nur die richtigen Shorts anziehen, dann tragen alle Pilger Sie mit Freude huckepack und geben Ihnen zu trinken. Bei Omas ist das etwas anderes, aber Sie...«
Dieses Arschloch hört nicht auf, denkt Clara.
»Essen wir heute Abend zusammen?«
Elsa: »Warum nicht?«
Der junge Mann kneift ihr leicht in die Wange. Elsa mag das gar nicht, aber sie ist zu höflich, um ihn in seine Schranken zu weisen.
Elsa: »Und was machen Sie beruflich?«
»Ich bin Leitender Angestellter. France-Telecom. Handelsbeziehungen mit Großkonzernen, Kommunikationsplanung... Ich trage eine Riesenverantwortung.«
Pierre prustet vor Lachen.
»Und Sie?«, fragt der leitende Angestellte.
Elsa: »Ich studiere.«
»Das ist gut... Darf ich für mein Album ein Foto von Ihnen machen?«
Elsa: »Wenn Sie wollen.«
Er zieht seine Kamera heraus und pfeift dabei die Erkennungsmelodie seines Unternehmens: Dadada dada. Wie ein großer Modefotograf gibt er Elsa Anweisungen und bringt sie in Pose.
»Setzen Sie sich da hin... weg von den Opas und Omas...«
Unglaublich! Was für ein Riesenarschloch, denkt Clara. In zwei Minuten hau ich ihm eine ins Gebiss, denkt Pierre.
»So, das muss ein bisschen sexy aussehen — Kopf nach hinten, Kreuz durchdrücken, schön lächeln, mit geöffnetem Mund, und zeig mir deine kleine geile Zunge, genau so, Brust raus und zieh die Hosenbeine ein wenig hoch, damit ich deine schönen Beine sehe... So, ja, so ist sie hübsch, so ist sie sexy...«
Elsa hat nun langsam genug von diesen Faxen, sagt aber aus Höflichkeit nichts.
Pierre und Clara könnten kotzen.
In den Schlafsälen mit den dünnen Wänden stehen etwa zwanzig Dreierstockbetten aus Eisen, darin schlafen an die sechzig Pilger tief und fest.
Saint-Jean-Pied-de-Port ist ein Knotenpunkt, wo die
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