Pilgern auf Französisch
was ist denn das?«
Clara deutet auf ein emailliertes kleines Blechschild, das an dem Steinbrunnen befestigt ist. Ramzi entziffert es langsam:
»T-r-i-n-k-w-a-s-s-e-r.«
Und sie denkt im Stillen: Auf dass du lesen kannst und ich keine Araberin bin.
Mittagspause am Flussufer neben einer Brücke. Mathilde unterhält sich mit Pierre.
»Geht es einigermaßen — ohne Ihre Medikamente?«
»Ich habe Herzrasen.«
»Aber offensichtlich kommen Sie gut zurecht auf der Wanderung.«
»Na ja...«
»Doch, doch. Die letzte Steigung haben Sie erklommen wie eine Gämse.«
»Na ja...«
»Manchmal ist es besser, wenn man die Medikamente absetzt.«
Clara und Ramzi sitzen ein Stück von den anderen entfernt auf der Brücke. Seitdem er die ersten größeren Hürden beim Buchstabieren genommen hat, Lettern zu Wörtern verbinden kann und die Wörter einen Sinn ergeben, hat ihn eine wahre Lesewut gepackt. Er liest alles, was ihm unter die Augen kommt — die Aufschrift auf einer Thunfischdose, das Etikett seiner Hose, die Wegbeschilderung, seine Pilgerstempel, die Namen der Kuchen in den Bäckereien, er ist ein richtiger Lesejunkie. Nun hat er eine Seite aus einer alten Zeitung erwischt und liest. Clara betrachtet ihn wie eine Stute ihr neugeborenes Fohlen, dem es gelingt, sich auf seine vier dürren Beinchen zu stellen, und das über die Koppel zu laufen versucht.
»R-e-s-s-o-r-t...«
»Ressort. Die Unterabteilung einer Zeitung, ein Themengebiet.«
»Ressort. Aber es heißt doch Ressor-t, da ist noch ein T.«
»Ja. Aber ich habe dir ja schon erklärt, dass man nicht alles so spricht, wie man es schreibt.«
»Und warum?«
»Weil jede Sprache, jede Schrift ihre Geschichte hat, und das Französische hat eben in gewisser Weise Narben davongetragen.«
»Narben?«
»Früher war Frankreich von den Römern besetzt, die ihr Latein als Grundlage für unsere Sprache mitbrachten. Als sie abzogen, haben die Gallier das Lateinische verändert, es hat sich abgeschliffen, doch im geschriebenen Wort sind die alten Formen erhalten wie Narben, wie eine Erinnerung an früher.«
»Wurde Frankreich denn verwundet, als die Römer das Land besetzten?«
»Was? Ja und nein. Die Römer haben den Fortschritt gebracht — fließendes Wasser, Brücken, Theater, eine gut organisierte Verwaltung... Aber sie waren die Herrscher, und die Gallier mochten sie nicht besonders.«
»Wie die Algerier die Franzosen.«
»Wenn du so willst.«
»Und was war, als die Römer abgezogen waren?«
»Ein Chaos. Wie in Algerien. Jahrhundertelang...«
»Aber es ist doch besser, dass sie weg sind...«
»Und wie!«
»...denn dann waren die Gallier frei.«
»O ja.«
Ungefähr seit dieser Zeit, also kurz bevor sie ins französische Baskenland kommen, schlafen Claude und Mathilde miteinander. Die Nächte sind lau, man kann draußen schlafen. Mathilde wehrte sich erst heftig dagegen, weil sie Angst hatte, ihre Kahlheit zu zeigen. Aber Claude war zärtlich und rücksichtsvoll, er fand sie schön, so wie sie war, er urteilte und verurteilte nicht, er mag sie.
Nachts nehmen sie eine Decke und schleichen sich leise aus der Herberge.
Dann spazieren sie durch den Mondschein, plaudern und suchen sich ein Plätzchen neben einer Pappelallee oder auf einer Wiese, wo sie es sich bequem machen können. Sie lieben sich lange, dann unterhalten sie sich ganz unbeschwert, sie machen keine Pläne, versprechen sich gegenseitig nichts. Keiner von beiden will das, sie wollen sich nur an ihrem Körper erfreuen und den Augenblick genießen.
Die restliche Gruppe weiß nichts davon oder vielmehr: Sie weiß es doch. Es gab die eine oder andere Anspielung unterhalb der Gürtellinie, aber im Grunde stört sich niemand daran.
Außer Guy, der immer schweigsamer wird und sich in sich zurückzieht.
Als sie an einem Friedhof vorbeikommen, merkt Guy an, es gebe hier immer ein bisschen Wasser zum Gießen der Gräber, und wer Durst habe, könne die Gelegenheit nutzen.
Elsa, Camille, Said und Ramzi entdecken auf dem Friedhof tatsächlich am Ende eines Wegs einen Brunnen.
Als sie an den Gräbern entlanggehen, bleibt Ramzi immer wieder stehen und liest die Inschriften:
»>Unser Sohn<... >Unser Sohn<...«
Er ruft: »Oje, die Ärmsten!«
Said fragt ihn, wovon er spricht.
»Die hier haben zwei Söhne verloren, ganz jung, und die da ’nen kleinen Jungen, hier sind Fotos...
>Unsere Mutter, Großmutter<... Die Armen müssen ja schrecklich gelitten haben.«
Said und die Mädchen, die gerade ihre
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