Pilgern auf Französisch
Wasserflaschen füllen und trinken, hören Ramzi, der tief betroffen die Fotos der jungen Verstorbenen betrachtet. Elsa will ihn beruhigen.
»Reg dich nicht so auf, Ramzi, die sind schon lange tot, außerdem haben wir sie doch gar nicht gekannt...«
Aber das kann Ramzi nicht trösten.
Eines Abends im Baskenland steht die Gruppe wieder vor einer belegten Herberge. Guy geht zum Pater, seinem Freund Père Sébastien, der Pilgern sein Haus umsonst zur Verfügung stellt, wenn in der Herberge kein Platz mehr ist. Der Pater freut sich sehr, Guy zu sehen, er nähme auch seine Gruppe gern auf, aber er hat schon Gäste, und es sind nur noch sechs Betten frei. Claude und Mathilde wollen unter freiem Himmel schlafen, also reichen die Plätze — bis auf einen. Und so bietet der Pater dem überzähligen Gast sein eigenes Schlafzimmer an, er selbst will in der Sakristei übernachten, das trifft sich gut, denn früh am Morgen hat er eine Taufe. Der Père Sébastien, ein stämmiger älterer Herr mit einem runden roten Bauerngesicht, liebt die baskische Küche und die Pelota. Er kocht, alle helfen mit. Küche und Esszimmer verwandeln sich in eine Kantine. Man trägt Pierre das Zwiebelschälen auf, und dabei muss er schrecklich weinen.
Der Pater zeigt Ramzi, wie man Kuchenteig zubereitet. Ramzi stürzt sich so genüsslich ins Teigkneten, dass das Mehl nur so stäubt und sogar sein Haar überzieht. Dann belegt er den ausgewellten Teig mit Pflaumenhälften und Apfelschnitzen, die er in konzentrischen Kreisen anordnet. Auf ein rundes Teigstück schreibt er mit dem Messer den Namen seiner Mutter, Noubia, legt es in die Mitte des Kuchens und bestreicht es mit Eigelb.
Die Dunkelheit bricht herein; im Garten wird unter Lampions und mit Kerzen eine lange Tafel gedeckt, das Mahl ist nicht üppig, aber es ist ein Fest, man unterhält sich angeregt und tauscht mit den anderen Pilgern die neuesten Nachrichten über den Jakobsweg aus. Den Père Sébastien umgibt eine unsichtbare Aura der Großherzigkeit, die alle glücklich macht.
Mitten im Essen hält Elsa inne und fragte Said: »Sag mal, was hat Ramzi denn da vorher auf dem Friedhof geschwafelt?«
»Er hat von den Gräbern und den Toten erzählt...«
»Hast du ihm die Inschriften denn vorgelesen, Camille?«
»Nein.«
»Du hast ihm nichts vorgelesen?«
»Nein.«
»Dann hat er sie also selbst gelesen...«
»Was denn?«
»Diese Inschriften. Er selbst hat die Inschriften auf den Grabsteinen gelesen...«
»Ach was! Er kann doch gar nicht lesen. Ich habe schon lange wieder aufgehört, ihm das Lesen beibringen zu wollen.«
»Er hat sich nur die Fotos angesehen«, erklärt Said.
Am anderen Ende des Tischs schneidet Ramzi seinen Kuchen an.
Eines Tages schlägt Guy vor, einen Umweg zu machen und eine romanische Kirche zu besichtigen. Auf einem Feldweg wandert die Gruppe über Stock und Stein, die Landschaft wird immer urwüchsiger. Die Pilger kommen an einem abgelegenen Gehöft vorbei. Ein alter Mann tritt heraus, er trägt fleckige Kleider und eine Baskenmütze auf dem Kopf, in der Hand hält er einen Knüppel. Er ruft die Pilger zu sich. Aus der Nähe ähnelt sein Gesicht einer Landkarte, seine Falten sind Flüsse, Schluchten, gewundene Straßen. Die Hände mit den erdschwarzen Nägeln und der dicken, trockenen Haut müssen schon Tausende von Eutern gemolken haben, sie sind in der Melkbewegung erstarrt: Die vier Finger sind schräg zusammengedrückt, der Daumen steht nach oben und ist an den Zeigefinger gepresst, um die Milch herausspritzen zu lassen. An allen Knöcheln hat er arthritische Schwellungen.
»He, wohin des Wegs?«
»Nach Santiago«, antwortet Guy freundlich.
»Sind Sie denn katholisch?«
»Na ja, in unserer Gruppe gibt es so ziemlich alles...«
Verächtlich schätzt der Alte den Dunkelhäutigen ab.
»Aber Sie sind kein Katholik.«
»Nein, ich wurde katholisch getauft, aber inzwischen bin ich Atheist.«
»Sie sind nicht getauft, Sie sind keiner von uns, Sie sind nicht katholisch — und die da auch nicht!«
Er deutet auf Said und Ramzi.
»Nein, die beiden sind Muslime.«
Würdevoll fügt Claude hinzu: »Und ich bin Alkoholiker.«
»Ich bin evangelisch, aber die Konfession interessiert mich nicht«, erklärt Elsa.
»Aha, evangelisch... Hier erschlägt man die Evangelischen — damit!« Drohend hält er seinen Knüppel hoch. »Hier gibt es keine Evangelischen mehr. Alle erschlagen.«
Guy lächelt immer noch freundlich.
»Das war vor langer Zeit, Monsieur, die
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