Pilgern auf Französisch
wandern auch weiter.«
Camille und Elsa freuen sich sehr und zeigen es auf ihre Weise — indem sie kleine Schreie ausstoßen.
Pierre zum leitenden Angestellten: »Probleme?«
Elsa: »Er fährt nach Hause, es geht ihm nicht gut.«
Pierre: »Können wir etwas für Sie tun?«
Der leitende Angestellte: »Nein, nein, ist schon in Ordnung.«
Pierre: »Na gut, dann lassen wir Sie jetzt allein. Wir haben noch einiges vor uns... Der Opa grüßt schön!«
Clara: »Und die Oma auch!«
Camille: »Unsere ganze Prollfamilie grüßt Sie!«
Claude schlägt dem jungen Mann auf die Schulter und pfeift dabei die Erkennungsmelodie von France-Telecom. Der leitende Angestellte wirkt völlig bedröppelt.
Topfit macht sich die Gruppe wieder auf den Weg.
Elsa: »Kann mir jemand einen Fotoapparat leihen?«
Pierre sucht in seiner Jackentasche. »Ich müsste eine Einwegkamera haben... Hier.«
Elsa: »Danke, genau das brauche ich.«
Sie knipst den leitenden Angestellten von France-Telecom mit Pierres Einwegkamera.
»Es stört Sie doch nicht, dass ich ein paar Fotos mache — für mein Album. Könnten Sie sich nicht ein kleines bisschen ansprechender hinsetzen? Kopf nach hinten, Mund auf, komm schon, zeig mir deine kleine geile Zunge und zieh die Hose ein wenig hoch, damit ich deine schönen Beine sehe... So, ja, so ist er hübsch, so ist er geil, meine große, fette Verantwortung...«
Der leitende Angestellte: »Ist ja schon gut. Hören Sie auf, mich zu verarschen!«
Elsa erbarmungslos: »Och, ist er verärgert, mein kleiner Einzelkämpfer? Ist die Herausforderung doch zu groß für sein schwaches Herzchen?«
Nach vier Stunden Aufstieg stehen die Pyrenäen in ihrer ganzen Pracht vor ihnen — hohe Berge, weite Hänge mit Weiden, wo schwarzfüßige Schafe und rotmähnige Wildpferde grasen. Die Gipfelreihen erstrecken sich bis in die Unendlichkeit wie ein erstarrtes Wellenmeer.
Eisiger Regen fällt nun auf die Pilger herab und tränkt sie.
Die Gruppe hat sich zerstreut, jeder kämpft sich allein und schlapp weiter wie eine einsame Ameise.
Wolken umgeben die Gipfel, der Nebel wird dichter, dieser schaurig schöne Albtraum will überhaupt kein Ende nehmen.
Pierre ist zwar nicht mehr der Letzte, aber er hat Watte in den Knien, wunde Füße, einen verspannten Rücken, und er bekommt kaum noch Luft. Endlich lässt er sich gehen und schreit seinen Schmerz laut hinaus:
»Was bin ich bloß für ein Trottel! >Der Opa grüßt schön<« (äfft er sich selbst nach), »ja hätte ich doch bloß die Klappe gehalten, denn der Opa ist völlig am Ende, gesotten und durchgebraten wie ein richtiger Opapa! Warum habe ich nur gesagt, dass ich weiterwandere? Was bin ich doch für ein Trottel! Und dabei könnte ich in aller Seelenruhe in einem Erste-Klasse-Abteil sitzen und nach Paris fahren! Ich habe es satt!«, brüllt er in den Wind, »das ist zu hart! Zu hart!«
Ein Gipfelkreuz markiert die Passhöhe. Alle versammeln sich dort und ruhen aus.
Seit Jahrhunderten legen Pilger an diesem Kreuz Steine oder Blumen nieder, sie bringen bunte Bänder und Tücher an oder lassen Dinge zurück wie eine zerbrochene Brille, einen kaputten Rasierapparat oder eine leere Zigarettenschachtel, auf der »Heute habe ich aufgehört« steht. Simple Kleinigkeiten, die von einer Anwesenheit zeugen, die sagen: Ich war hier, ich gebe euch ein Zeichen, ich habe genauso gelitten wie ihr, ich habe es geschafft, wir sind alle auf demselben Weg unterwegs.
Wie tröstlich sind diese Zeichen für den Wanderer! Der lebendige heidnische Kult einer Gemeinschaft, die ihre Riten selbst schafft und frei erfindet. Die Spuren, die den Weg säumen — Steinpyramiden, verzierte Pfeile, Skulpturen, Initialen an Brunnen, Nachrichten an Herbergsmauern für nachfolgende Pilger, für jene, mit denen man sich angefreundet und die man wieder aus den Augen verloren hat — , diese Spuren sind sozusagen die Bande der Menschheit, die im Individualismus verkommt und verzweifelt nach einem Sinn sucht.
Alle Pilger schildern die Pyrenäenetappe als den schlimmsten Wegabschnitt, aber auch als den unvergesslichsten, und alle würden ihn jederzeit noch einmal gehen... Als müsste man erst alle Zweifel durchlaufen, als müsste man durch die Hölle und durch die schmerzliche — körperliche und seelische — Selbstversenkung gehen, um die Schönheit des Lebens zu erkennen.
Nach einem einstündigen Abstieg, der ihnen die Knie weich macht, entdecken Mathilde, Ramzi und Said eine Lichtung, sie stapfen
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