Pilgern auf Französisch
Religionskriege sind vorbei.«
»Und was machen Sie mit den Juden?«, fragt Mathilde.
Dem Alten gefällt es gar nicht, dass sich eine Frau über ihn lustig machen will.
»Für Juden und Araber gibt’s blaue Bohnen, ich hole gleich meine Büchse!«
Seine Stimme klingt bedrohlich. Er geht ins Haus.
Guy lächelt nicht mehr.
»Wir wollen besser von hier verschwinden. Er ist zu alt, als dass wir uns mit ihm anlegen sollten, aber er ist so verrückt, dass er wirklich seine Büchse holen könnte. Also, legen wir einen kleinen Sprint ein?«
Alle machen sich schnell auf die Socken, um vom Gehöft des Irren wegzukommen. Als sie sich umdrehen, steht der Alte mit dem Gewehr in der Hand fluchend auf dem Weg und schießt in die Luft.
Sie kommen durch ein Dorf. Die Kirchenglocke schlägt viermal — der helle Klang der gegossenen Glocke erinnert Eltern und Kinder unüberhörbar daran, dass es Zeit für eine Stärkung ist. Clara kann dem Ruf nicht widerstehen, sie kauft Schokoladencroissants und Rosinenbrötchen und verteilt sie an alle, auch an ihren Bruder Pierre. Sein Dankeschön fällt knapp aus.
Nachdem Claude gemerkt hat, dass eine Pause bevorsteht, hat er sich in ein Bistro verzogen.
Auch er soll von Clara ein Stück Gebäck bekommen, aber man sucht ihn vergeblich.
Ramzi vertreibt sich die Zeit mit der Lektüre der Schlagzeilen im Lokalblatt.
Camille liegt auf der Kirchentreppe und ruht sich aus, ihr Kopf liegt auf Saids Schoß, er streicht ihr übers Haar.
Elsa hört ihre Nachrichten ab.
»Camille, bei Ramzis Mutter geht immer noch niemand ans Telefon.«
Mathilde macht Claude schließlich in der Eckkneipe ausfindig, wo er sich heimlich einen doppelten Whisky hinter die Binde gießt. Als sie hereinkommt, setzt Claude eine halb schuldbewusste, halb resignierte Miene auf wie ein schlechter Schüler seiner Lehrerin gegenüber.
Plötzlich hat Mathilde das heftige, schmerzhafte Gefühl, dass etwas zwischen ihnen zu Ende ist. Sie fühlt sich im Netz ihrer alten Neurose gefangen, die sie damals krank gemacht hat.
Claude säuselt: »Ach, Mathilde, hättest du nicht ein bisschen Geld für mich? Ich weiß gar nicht, wo ich meine Kohle hingesteckt habe...«
Die Wirtin hinter der Theke beobachtet sie, während sie ein Glas trocken wischt. Sie schweigt, aber ihr Blick sagt zu Mathilde: Bezahl nicht!
Doch Mathilde bezahlt.
»Wie viel macht das?«
»Ein doppelter Whisky — acht Euro.«
Kommentarlos zieht Mathilde einen Zehn-Euro-Schein heraus. »Stimmt so.«
Die Wirtin bedankt sich und steckt den Schein ein.
Mathilde verlässt die Kneipe, ohne sich umzudrehen. Claude folgt ihr auf den Fersen, zufrieden und gefügig, wie ein Hund seinem Frauchen folgt, das ihn füttert.
Wenig später wandern die Pilger an einem Flussufer unter hohen Bäumen entlang. Guy unterhält sich mit Claude.
»Zu dumm! Ich habe doch tatsächlich vergessen, mich nach dem Ergebnis des gestrigen Spiels zu erkundigen.«
»War gestern ein Spiel?«
»Olympique Marseille gegen AC Mailand.«
»Und wie ging es aus?«
»Nun, das weiß ich eben nicht. Schade, wir hätten im Dorf fragen können... Hey, Mädchen, habt ihr ein Netz?«
Elsa blickt auf ihr Handy.
»Nein. Warum?«
»Wir wüssten gern, wie das Fußballspiel gestern ausgegangen ist.«
Die Antwort kommt prompt, und zwar von Ramzi:
»Zwei zu eins. Zwei zu eins für Marseille.«
Guy und Claude stoßen Freudenschreie aus.
Said ist völlig verdutzt.
»Woher weißt du das?«
»Das stand auf einem Plakat vor der Bäckerei.«
»Was — kannst du lesen?«
»Nein, nein... nur ein kleines bisschen...«
»Du kannst ein bisschen lesen?«
»Ja, ich kann ein bisschen lesen. Das darfst du aber nicht Camille sagen, sonst wird sie sauer.«
Clara hat alles gehört. Sie sagt kein Wort. Sie ist stolz.
DER FRANZÖSISCHE TEIL des Jakobswegs neigt sich dem Ende zu. Die Pilger erreichen Saint-Jean-Pied-de-Port, den Ausgangsort für den gefürchteten Aufstieg zum Pyrenäenpass von Roncesvalles.
Die Pilgerherberge von Saint-Jean-Pied-de-Port befindet sich oben an einer schmalen Straße, gesäumt von alten baskischen Häusern mit rotem Ziegeldach und blütenweißem Verputz.
Im Vorgarten, wo man für die Pilger Tische und Stühle aufgestellt hat, sitzen Elsa, Clara und Pierre schlapp in der Sonne und warten darauf, dass die Herberge öffnet.
Die anderen haben sich zu einer Erkundungstour in die Stadt aufgemacht.
Da kommt ein munterer junger Mann daher, einen auffälligen gelb-roten Rucksack auf
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