Pilgern auf Französisch
ihren Dank aussprechen.
Guy ist überrascht, denn bisher hat er stark daran gezweifelt, ob man ihn überhaupt (ein bisschen oder sogar sehr?) mag. Ihm stehen Tränen in den Augen. Mathilde freut sich.
Claude hat seine Eifersucht überwunden, die bevorstehende Trennung von der Gruppe allerdings noch nicht. Plötzlich fragt er sich, wie er denn nur ohne diese acht Menschen — einschließlich seines Bruders und seiner Schwester — leben soll, nachdem sie sich recht und schlecht zusammengerauft und unbeschreibliche Momente miteinander erlebt haben. Er mag Mathilde noch sehr, doch er fühlt sich auch Guy freundschaftlich verbunden. Das Ende der Affäre mit Mathilde macht ihm nichts mehr aus, aber er trauert einem gemeinsamen Abenteuer nach, das ihn an einen Punkt gebracht hat, den er nie zu erreichen hoffte. Er trinkt immer noch genauso viel und wird es immer tun, trotzdem ist etwas in ihm geheilt. Er kann es gar nicht erwarten, seine Tochter wiederzusehen.
Es wird dunkel, die orange leuchtenden Straßenlampen werden eingeschaltet. Es ist heiß, Ramzi und Elsa hüpfen über die breiten Treppen, die von Platz zu Platz führen, kühlen sich das Gesicht an den vielen Brunnen und grüßen brüderlich und schwesterlich die anderen Pilger.
Die Gruppe ist wie zusammengeschweißt. Keiner hat Lust, allein etwas zu unternehmen, die Trennung naht, also bleibt man zusammen.
Camille weiß nicht, wie sie an Said herankommen soll; er erweckt den Eindruck, als gehe es ihm überhaupt nicht gut, der Gruppe gegenüber aber macht er gute Miene. Said will nicht sprechen, kann nicht sprechen.
Gegen Mitternacht kehren sie in den Parador zurück.
In einem Gebäudeflügel etwas abseits von den anderen haben Clara und Pierre zwei Zimmer nebeneinander. Auf dem Flur sagen sie sich kurz angebunden gute Nacht, ihre Beziehung ist immer noch gespannt.
Als beide ihr jeweiliges Zimmer betreten wollen, hören sie vertraute Geräusche: ein niederländisches Grölen...
Pierre und Clara drehen sich um — am Ende des Gangs tauchen die drei Holländer auf, ein bisschen beschwipst, sehr fröhlich und sehr laut.
Pierre bleibt das Herz stehen.
Die Holländer nähern sich, sie erkennen Pierre und Clara und begrüßen sie erneut mit Freudenschreien, kräftigen Schlägen auf den Rücken und einem Wortschwall, der vermutlich sagen will: Ihr hier? Na, so was! Unglaublich, toll, wir sind Zimmernachbarn, ihr seid ja so nett, wir hatten genug von den Herbergen, wir haben beschlossen, in unserer letzten Pilgernacht im Parador zu schlafen, ihr auch, das ist stark, wir sind ja fast unzertrennlich, Wahnsinn...!
Pierre versteht kein Wort, kann den Inhalt aber erahnen. Doch als die drei Holländer dann ihr Zimmer aufsuchen, ein Zimmer zu dritt, versteht Pierre ganz genau: Es ist das Zimmer neben seinem.
Ihm rutscht das Herz in die Hose.
Im Zimmer fangen die Holländer auch gleich an zu singen: »Hey la bombak, hey la bombak es kapote«, den berühmten holländischen Schlager, den Pierre seit dem Abend im Schulhaus nur allzu gut kennt.
Und da ist es um ihn geschehen.
Er tritt seinen Stolz mit Füßen und geht wutschnaubend zu Claras Zimmer. Er hebt die Hand, um anzuklopfen, doch im letzten Moment zieht er sie wieder zurück, weil es ihn zornig macht, seine Schwester um etwas bitten zu müssen. Er wirft einen vernichtenden Blick auf die Zimmertür der Holländer. Sonore Ströme von »La bombak« und lautes Lachen dringen an sein Ohr, die Nacht verspricht molto agitata zu werden.
Pierre aber kann auf die Marter einer weiteren schlaflosen Nacht verzichten und schickt sich resigniert in den Entschluss, seine Schwester um gastliche Aufnahme zu bitten. Wieder hebt er die Hand, um anzuklopfen, doch bevor er die Tür noch berührt, öffnet Clara auch schon. Sie hat es geahnt, sie winkt ihn mit dem Kopf herein.
Wortlos und steif wie ein Stock tritt Pierre ein und wartet auf Claras Anweisungen.
Das Zimmer hat zwei schöne Himmelbetten, Clara macht ihm ein Zeichen, sich eins davon auszusuchen.
Schweigend geht er zum Bett, schlägt es auf und sieht sich plötzlich Clara gegenüber, die ihr Bett ebenfalls aufschlägt. Verlegenheit.
Sie küssen sich kurz auf die Wange und wünschen sich gegenseitig eine gute Nacht.
Mitten in der Nacht steht Said im verlassenen Flur des Paradors und schluchzt in Camilles Armen.
AM NÄCHSTEN TAG nehmen sie den Bus nach Fisterra, wo man seinen Pilgerstab ins Meer wirft, zum Zeichen, dass die Pilgerreise nun wirklich beendet ist.
Alle
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