Pilgerspuren: Palzkis siebter Fall (German Edition)
geht es Ihnen wieder gut?«
Wie aus
weiter Ferne erreichten diese Worte mein Gehör. Langsam, sehr langsam kam ich wieder
zur Besinnung. Ich saß auf einem Besucherstuhl und starrte eine besorgt dreinschauende
Dame an, die mich an der Schulter festhielt. Ein Mann kam hinzu, gab mir ein Glas
Wasser und sagte: »Alles wird gut.«
»Sollen
wir einen Arzt rufen?«, fragte mich die Frau und hob eine Augenbraue.
Ich benötigte
eine Weile, um die Lage einigermaßen überblicken und meine Gedanken ordnen zu können.
»Danke, es geht wieder. Mir ist plötzlich schwarz vor Augen geworden. Das ist mir
noch nie passiert.«
Die Dame
zeigte mitleidsvoll auf eine silberne Säule, die mitten im Empfangsraum die Decke
stützte.
»Kein Wunder,
Sie sind einfach schnurstracks auf den Betonträger zugelaufen. Haben Sie Ihre Brille
vergessen oder noch Restalkohol im Blut? So etwas hat bisher niemand fertiggebracht.«
Tatsächlich,
mitten im Raum befand sich eine 20 Zentimeter dicke Säule, die eigentlich unübersehbar
war. Der Pflanzenalbtraum musste mich abgelenkt haben. In diesem Moment entdeckte
ich am Fußpunkt der Säule im Betonboden vier Haarrisse, die in alle Himmelsrichtungen
verliefen. Sollte ich mit meinem Dickkopf die Statik des Gebäudes beeinträchtigt
haben? Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen.
»Zu wem
wollen Sie eigentlich?«
»Mein Name
ist Reiner Palzki, ich bin Kriminalhauptkommissar und würde gerne den Geschäftsführer
Marco Fratelli sprechen.«
Die Frau
zuckte erschrocken zusammen. »Um diese Uhrzeit? Haben Sie einen Termin?«
»Nein, ich
bin spontan und terminlos hier.« Ich blickte auf meine Uhr. »Es ist kurz vor elf,
ist das zu früh für Herrn Fratelli?«
»Wie man’s
nimmt«, antwortete sie schulterzuckend. »Können Sie aufstehen? Dann begleite ich
Sie ins Besprechungszimmer.«
Ich konnte,
und wir gingen gemeinsam durch eine Tür, die sich nur wenige Meter neben der Ungeheuerpflanze
befand. Die Dame wies mir einen Platz an dem etwa zehn Personen fassenden Tisch
zu.
»Herr Fratelli
wird gleich bei Ihnen sein.« Sie schaute mich zum Abschied an, so wie man jemanden
anschaut, den man mutmaßlich zum letzten Mal im Leben lebendig sieht. Ich besann
mich, konnte aber keinen Fehltritt, von der Säule mal abgesehen, ausmachen, den
ich begangen hatte. Vielleicht hatte ich irgendwelche Riten verletzt, die beim Betreten
dieses Gebäudes erwartet wurden? Ich kam zu keinem abschließenden Ergebnis. Schließlich
betrachtete ich, um mich von allem etwas abzulenken, die mächtigen Regale, in denen
Dutzende Jahresbände des ›Pilgers‹ standen. Ich wollte gerade einen aktuellen Band
herausziehen, da öffnete sich die Tür und der mir bekannte Fratelli kam herein.
»Hallo,
Herr Palzki«, begrüßte er mich überschwänglich, aber mit einer auffälligen Portion
Nervosität. »Ich hätte mich im Laufe des Tages bei Ihnen gemeldet, um mich für Ihre
gute Tat zu bedanken. Es freut mich trotzdem, dass Sie vorbeigekommen sind. Leider
ist der Zeitpunkt äußerst ungünstig, denn ich habe im Moment wenig Zeit. Wir haben
ein schwerwiegendes technisches Problem im Haus. Es ist unvorstellbar, was passiert
ist.«
Ein technisches
Problem? Mist, die haben die Risse entdeckt. Ob das Gebäude bereits evakuiert wurde?
»Kann man
das nicht einfach wieder zuspachteln?«
Fratelli
sah mich an, als käme ich direkt vom Mond.
»Zuspachteln?
Ich bitte Sie. Hier geht es um die nackte Existenz. Ich hoffe, dass es kein Totalschaden
ist und nur das Stromnetz überlastet ist. Ein Elektroniker und ein Mechaniker sind
gerade angekommen. Hoffentlich finden die den Fehler, sonst ist der Tag gelaufen.«
Aus dem
Kontext heraus hatte ich erkannt, dass mein Fauxpas anscheinend nichts mit der momentanen
Situation zu tun hatte. Aber welches technische Problem sollte ein Verlag haben,
der den ›Pilger‹ herausbringt und dessen Jahrhundertarbeit hier im Regal stand?
Man konnte schließlich davon ausgehen, dass ohne Computer gearbeitet und alles mit
mechanischen Schreibmaschinen getippt wurde. Ob die Texte dieser Kirchenzeitung
noch mit Bleilettern gesetzt wurden? Ich bemerkte, dass Fratellis Hände zitterten.
»Wir können
gerne zu der Quelle Ihres Malheurs gehen und uns dort weiter unterhalten.«
Fratelli
sagte sofort zu.
»Das wäre
super, kommen Sie mit. Es geht um Minuten.« Der Geschäftsführer raufte sich besorgt
die Haare.
Ich folgte
ihm nach hinten durch das langgezogene Gebäude. In manchen Büros saßen Mitarbeiter,
die
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