Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
 Pilot Pirx

Pilot Pirx

Titel: Pilot Pirx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
Vom Netzwerk:
entspannt war. Die Uhr war also sicherlich nicht stehengeblieben, als Savage starb, sondern sie war noch eine Zeitlang weitergegangen.
    In der Station herrschte die gewohnte Ordnung. Das Tagebuch, in das alle wesentlichen Ereignisse eingetragen wurden, enthielt nichts, was auch nur ein Quentchen Licht in das Dunkel bringen konnte. Pirx studierte Eintragung um Eintragung. Sie waren lakonisch abgefaßt. Um die und die Zeit wurden astrographische Messungen vorgenommen, soundso viele Platten wurden unter diesen und jenen Bedingungen belichtet, die und die Beobachtungen wurden durchgeführt – nicht eine der stereotypen Notizen bezog sich auf das, was Challiers und Savage zugestoßen war.
    Im Innern der Station herrschte nicht nur Ordnung: Alles zeugte davon, daß der Tod die Bewohner überrascht hatte. Man fand ein aufgeschlagenes Buch mit Randnotizen von Challiers’ Hand; es lag unter einem zweiten, damit die Seiten nicht umblätterten, unter der noch brennenden Leselampe. Daneben fand man die Tabakspfeife; die glühende Asche war herausgefallen und hatte den Kunststoffbelag der Tischplatte leicht angesengt. Savage hatte gerade das Abendessen bereitet. In der Küche standen geöffnete Konservendosen und eine Schüssel mit Eierkuchenteig. Die Kühlschranktür stand halb offen, der kleine weiße Tisch war gedeckt: Zwei Gedecke, angeschnittenes trockenes Brot ...
    Einer von ihnen war also von der Lektüre aufgestanden und hatte die brennende Pfeife beiseite gelegt, wie man das gewöhnlich tut, wenn man für ein paar Minuten das Zimmer verlassen und gleich zurückkehren will. Der andere hatte die Zubereitung des Essens unterbrochen und war fortgegangen – fort von der Bratpfanne mit dem aufgelösten Fett ... Er hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, die Kühlschranktür zuzuschlagen.
    Sie zogen die Skaphander an und gingen in die Nacht hinaus. Gleichzeitig? Oder einer nach dem anderen? Wohin? Und weshalb?
    Seit zwei Wochen waren sie auf der Station, kannten die Umgebung ausgezeichnet. Die Nacht war übrigens schon fast vorüber. In zwölf Stunden etwa – das wußten sie – würde die Sonne aufgehen. Weshalb warteten sie nicht solange, wenn sie durchaus auf den Boden des Kraters klettern wollten? Hatten beide diese Absicht oder nur der eine? Challiers hatte sie auf jeden Fall, denn das bewies die Stelle, an der er aufgefunden wurde. Er wußte genau wie Savage, daß es an Wahnsinn grenzte, auf die Felsenplatte unter dem Sonnentor zu steigen, wo der Weg plötzlich abriß. Das sanfte Gefälle ging dort in einen immer steileren Hang über, als wollte es zum Hinuntersteigen einladen, aber sechzig Schritt weiter klafften bereits die Einbruchsteilen, die von der Katastrophe herrührten. Der neue Weg führte gerade, immer den Aluminiummasten folgend. Das wußte jeder, der nur ein einziges Mal auf der Station weilte – und ausgerechnet ein ständiger Mitarbeiter der Station wandte sich dem Abgrund zu! Warum? Um sich umzubringen? Steht jemand, der Selbstmord begehen will, von einer interessanten Lektüre auf, läßt das aufgeschlagene Buch zurück, legt die brennende Tabakspfeife beiseite und geht dem Tode entgegen?
    Und Savage? Unter welchen Umständen war seine Helmscheibe gesprungen? War er im Begriff, die Station zu verlassen, oder kehrte er zurück? Wollte er Challiers suchen? Weshalb war er nicht mit ihm zusammen gegangen? Oder hatten sie die Station vielleicht doch gemeinsam verlassen? Wie konnte Savage seinem Kollegen dann gestatten, zum Abgrund hinunterzusteigen?
    Fragen über Fragen ...
    Der einzige Gegenstand, der nicht an seinem Platz vorgefunden wurde, war ein Päckchen mit Klischees zur Aufnahme von kosmischen Strahlen. Es lag in der Küche auf dem kleinen weißen Tisch neben den leeren Tellern.
    Die Kommission war zur folgenden Schlußfolgerung gelangt: An jenem Tage hatte Challiers Dienst. In die Lektüre vertieft, bemerkte er plötzlich, daß es elf war. Um diese Zeit mußte er die belichteten Klischees durch neue ersetzen. Die Klischees wurden außerhalb der Station der Belichtung ausgesetzt. Etwa hundert Schritt oberhalb des Abhangs befand sich, in den Felsen gehauen, ein kleiner, nicht sehr tiefer Schacht, dessen Wände mit Blei ausgelegt waren, damit die Klischees ausschließlich von Strahlen getroffen wurden, die vom Zenit kamen. Challiers stand also auf, legte Buch und Tabakspfeife beiseite, nahm das neue Klischeepäckchen an sich und zog den Skaphander an. Er verließ die Station durch die

Weitere Kostenlose Bücher