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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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einstmals als Handtuch gedient hatten, kamen zum Vorschein, und er wickelte die Fetzen ab und warf sie Richtung Tür.
    »Woher kommst du?« fragte Nina.
    Viktor wandte den Blick von seinen Füßen zu Nina. Sie stand da in einem fliederfarbenen Trägerrock vor ihm, barfuß in Fellpantoffeln, sorgfältig gekämmt und die Augen geschminkt. Mit so unbewegter Miene, wie bereit für die Ewigkeit, wie um zehn Jahre gealtert.
    »Aus Taganrog«, antwortete Viktor nach einer Pause mit einem Seufzer. »Wo ist denn Sonja?«
    [355] »Bei ihrer Freundin im zweiten Stock… das ist keine so gute Familie…« In Ninas Stimme hörte Viktor den ihm früher an ihr unbekannten Ton der besorgten Mutter. »Der Bruder von dieser Tanja hat eine Akte bei der Miliz, der Vater ist Parkplatzwächter, er trinkt…«
    »Und was bist du?« Viktor hob den müden Blick zu Nina.
    Sie erstarrte. »Wie meinst du das?«
    »Na, er ist Wächter, und was bist du?«
    »Ich bin Hausfrau«, antwortete sie, dann musterte sie kopfschüttelnd seinen Kopfverband. »Hast du dich gestoßen?«
    »Ich wurde gestoßen«, korrigierte Viktor sie. »Hast du Verbandszeug?«
    »Ja!« sagte Nina und eilte in die Küche.
    Viktor zog inzwischen die Jacke und die warmen Hosen aus und ging ins Bad. Dem Spiegel wich er sorgsam aus. Er ließ heißes Wasser in die Wanne und lauschte gebannt auf das längst vergessene, herrliche Geräusch des heraussprudelnden Wasserstrahls.
    ›Was ist mit mir los?‹ dachte er. ›Ich sollte mich beruhigen, ich bin schon zu Hause!‹
    Er sah zu dem Fensterchen hoch, das in die Küche führte.
    »Nina!…« rief er. »Setz Tee auf! Haben wir was zu essen?«
    »Kommt gleich!« erklang ihre weiche, nachgiebige Stimme.
    Viktor zog sich nackt aus, stellte sich dann doch vor den Spiegel und betrachtete seinen schon lange nicht mehr [356] gewaschenen Körper und den schmutzigen Verband. Er wollte den Verband abnehmen, hielt aber inne. Sein Blick fiel auf den Einwegrasierer, Creme und Seife. Nach einem Blick in die erst halb volle Wanne beschloß er, sich zu rasieren. Er seifte seine Stoppeln ein und ging vorsichtig daran, sie abzurasieren. Die ans Rasieren nicht mehr gewöhnte Haut fing zu jucken an, und das Rasiermesser war alt. Als er schließlich fertig war, wusch er die Seife mit heißem Wasser von den Wangen und sah, daß die Haut dort weißer war als weiter oben auf den Wangenknochen und der Stirn. Er versuchte, das zu begreifen: es war doch nicht Sommer draußen, Sonnenbräune konnte es also nicht sein. ›Vielleicht Dreck?‹ überlegte er und seifte sich das Gesicht ein zweites Mal ein, sorgsam mit den Handflächen rubbelnd.
    Das Wasser hatte inzwischen die Wanne gefüllt, und Viktor stieg hinein.
    Er wäre jetzt gern mitsamt dem Kopf untergetaucht, aber der Verband hielt ihn davon ab. Erstaunlich, daß sich die Wunde in den letzten paar Stunden nicht gemeldet hatte. Vielleicht begann sie zu verheilen? Vielleicht begannen überhaupt alle in der Ferne empfangenen Wunden erst zu heilen, wenn man nach Hause kam?
    Aus der Küche drangen vergessene häusliche Laute durch das Fensterchen herüber, Teller wurden auf dem Tisch verteilt, Gabeln klirrten, ein Deckel wurde von einem Topf gehoben und wieder fallen gelassen.
    ›Was mache ich hier?‹ dachte Viktor plötzlich und erschrak selbst über die Frage. ›Ich bin zu Hause, daheim‹, redete er sich zu. ›Es ist vorbei, ich bin daheim!‹ [357] wiederholte er und horchte auf die Geräusche in der Wohnung. Die Küchentür knarrte. Das war Nina, die in den Flur hinausging. Im Flur schepperte etwas, und Viktor fuhr hoch.
    »Nina!« rief er. »Faß die Tasche nicht an!«
    »Ist ja gut, ich stelle sie nur unter die Garderobe!«
    Plötzlich ein Klopfen an der Wohnungstür.
    ›Warum nicht die Klingel?‹ meldete sich bei Viktor sofort ein mißtrauischer Gedanke.
    »Tante Nina, mach schnell auf!« ertönte von draußen Sonjas Stimmchen. »Tanja hat mich in den Finger gebissen, ich brauche Jod!«
    Gleich wurde es im Flur lebendig. Ninas Schritte in die Küche und zurück. Und plötzlich wieder Sonjas Stimme, nur jetzt ganz ruhig: »Was sind das für Sachen? Wer ist da bei uns?«
    »Papa ist wieder da«, sagte Nina.
    Die Tür zum Bad ging auf – Viktor hatte ganz vergessen, daß man das Häkchen von innen vorlegen konnte – und Sonja kam mit offenem Mund einen Schritt herein und starrte Viktor an. Sie hatte rote Leggings und einen grünen Pulli an.
    »Hallo! Sie haben dich gehen lassen! Und wo ist

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