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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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wuselnder Menschenzellen. Und je größer so ein Organismus ist, desto häufiger ist er nicht ganz gesund. Ständig muß man ihn behandeln und operieren. Ständig muß man Teile örtlich betäuben und kann nur hoffen, daß nie eine Vollnarkose nötig wird. Aus Angst vor einer Vollnarkose zieht man die Grenzen der örtlichen Betäubung immer weiter. Im betäubten Gebiet beginnen alle Organe und Menschenzellen, sich merkwürdig oder, in der Sprache der Medizin, dem Betäubungsgrad entsprechend aufzuführen. Sie verhalten sich anders als ihre Kameraden oder Organe außerhalb der Betäubungszone. Um in diese Zone hinein oder aus ihr heraus zu gelangen, ist gleichfalls eine [349] Betäubung nötig. Aber nun muß es schon eine Vollnarkose sein, damit der Körper beim Grenzübertritt keinen scharfen Schmerz erlebt und nicht auf etwas trifft, das die normale Psyche zerstören oder schwer schädigen könnte. Wer das weiß, dem scheint es nicht mehr seltsam, daß Viktor Tschetschenien in bewußtlosem Zustand betreten und verlassen mußte.
    Als er in Taganrog an der Bahnhofskasse stand und seine Fahrkarte nach Kiew bezahlte, schüttelte die Kassiererin düster den Kopf, als sie seinen immer noch glasigen Blick bemerkte. Sie dachte an ihren Neffen aus Nikolajew, der vor zwei Wochen an einer Überdosis gestorben war, und überlegte, sollte sie diesem Burschen von ihrem Neffen erzählen oder nicht? Sie tat es nicht.
    Bis zur Abfahrt des Zuges blieb noch mehr als eine Stunde, und gleich auf dem kleinen Bahnhofsvorplatz stand eine Bierbude, neben der ein alter Trinker seine Dörrfische anpries: »Haltet ihn gegen die Sonne! Dann seht ihr es: Das ist noch echter Fisch! Durchsichtig am Rücken!«
    Viktor stellte die Tasche ab, die ihm schon lästig mit ihren Riemen in die Schulter schnitt. Er blickte zum Himmel hoch und suchte nach der Sonne, auf die der Alte sich berufen hatte. Aber da war keine Sonne. Es wurde Abend, und die gelben Straßenlaternen beschienen den Platz mit einem ungewöhnlich zärtlichen Licht. Etwas von diesem Licht spiegelte sich in zwei leeren Bierflaschen auf dem hohen, einbeinigen Rundtisch vor der Bierbude. So lange, bis plötzlich ein buckliger Obdachloser unbemerkt herantrat und sie lautlos vom Tisch nahm.
    [350] Viktor zählte seine Rubel, verglich das Ergebnis mit den Bierpreisen und erkannte, daß er sich noch was leisten konnte. Zwar fühlte er sich wacklig auf den Beinen, aber die unvermutete Aussicht auf ein Bier belebte seine Gedanken. Er stellte die Leinentasche unter den runden Tisch, begab sich mit unsicheren Schritten zum Kioskfenster und kaufte bei der Verkäuferin mit dem Veilchen ums Auge eine Flasche Baltika. Für fünfzehn Rubel erstand er von dem Alten einen Fisch, der anderthalbmal so groß war wie seine Hand, rieb ihn ab und machte sich an den Verzehr dieses proletarischen Mahls. Das Bier war schnell leer getrunken, Fisch war noch da, also kaufte Viktor noch eine Flasche. Und ihm wurde so wohl zumute, daß der Wunsch in ihm aufkam, diesen neuen Zustand festzuhalten und länger hier auf dem Platz bei der Bierbude zu verweilen. Aber seine Augen wanderten ganz eigenmächtig zur Bahnhofsuhr. Bis zur Abfahrt seines Zuges blieben noch zehn Minuten.
    Viktor trank das Bier aus und beobachtete aus dem Augenwinkel den Obdachlosen, der etwas weiter weg stand und die beiden neuen leeren Flaschen anvisierte. Er sah noch mal zur Uhr und wandte sich Richtung Bahnsteige.
    »He!« rief ihm der Alte mit den Fischen hinterher. »Du hast da deine Tasche vergessen!«
    Viktor packte die Tasche, die ihn mit ihrem Gewicht sofort zu Boden ziehen wollte und seine Schritte bremste. Er gab sich einen Ruck, spannte seine letzten Kräfte an und kam noch irgendwie bis zu seinem Zug.
    [351] 65
    In Kiew war es frostig kalt. Während der sechzehnstündigen Zugfahrt, von der er fast fünfzehn Stunden verschlafen hatte, war das unbekannte Narkosemittel aus Viktors Organismus gewichen. Es war verschwunden. Viktor trat mit der Tasche in der Hand auf den Bahnsteig und erstarrte plötzlich, als ihm ihr Inhalt einfiel. Die Tasche war ja einfach den größten Teil des Weges neben ihrem schlafenden Besitzer gereist, und das hieß, sie konnte alles mögliche enthalten, nur nicht unbedingt das, was Viktor eingepackt hatte. Und so angestrengt er sich jetzt auch zu erinnern versuchte, wann er das letzte Mal in diese Tasche geschaut hatte – es kam nichts dabei heraus. Vielleicht hatte er ja auch überhaupt nie hineingeschaut?
    Viktor

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