Pinguine frieren nicht
war, ohne das Recht, sie zu verlassen.
Wieder wurde ihm unheimlich. Seine Aufmerksamkeit zerstreute sich, versickerte, löste sich in Luft auf. Selbst die Wunde an der Schläfe schmerzte nicht mehr und beanspruchte seine Aufmerksamkeit nicht. Er hätte seine Gedanken gern eingesammelt, alle auf einmal, sie isoliert und sie in irgendeine Kiste gesteckt, in einen Safe, egal wohin, wenn sie seinem Kopf nur eine Pause gönnten und er sich mal in Ruhe umschauen könnte.
›Mein Gott!‹ dachte er. ›Ich muß woanders hingehen. Mich auslüften, kalte Luft atmen. Ich muß hier raus, die Stadt wiederfinden, die Welt wiederfinden. Jemanden treffen! Aber wen?‹
Ljoscha fiel ihm ein. Das war der Mensch, der schon nirgendwo mehr hin verschwand und den man immer am selben Ort treffen konnte!
Viktor ging in den Flur. Er sah zur Garderobe, an der seine Katastrophenschutzjacke hing. Er hatte nicht die geringste Lust, sie anzuziehen. Aber er hatte jetzt nichts Wärmeres.
[365] 69
Der Spaziergang über den wenig belebten winterlichen Kreschtschatik brachte Viktor endgültig nach Kiew zurück. Die Füße hatten es gemütlich und angenehm in den alten leichten Halbstiefeln. Nach den Soldatenstiefeln mit den Frotteelappen erschienen Viktor seine Schritte jetzt übertrieben leicht, völlig anstrengungslos.
Er ging im Zentralen Kaufhaus vorbei und erstarrte, als er den Neujahrsschmuck sah, der überall verkauft wurde.
Er begriff, daß es nicht reichte, mit den Gefühlen in die Stadt zurückzukehren. Man mußte auch noch in die Zeit zurückkehren, die städtische Lebenszeit mußte mit mehr als nur der Zeit auf der Armbanduhr zusammenfallen.
Er ging wieder auf den Kreschtschatik hinaus, wandte sich zum Haus der Gewerkschaften und starrte auf den Turm. Die ewige Adidas-Reklame war von der Temperatur abgelöst worden: ›–17 °C‹, dann leuchtete die genaue Zeit auf: ›13 : 36‹ und endlich das Wichtigste: ›17. Dezember‹.
Viktor starrte auf die Leuchtanzeige, bis die Bilder und Ziffern in die zweite Runde gingen.
Dann begab er sich zum Platz der Unabhängigkeit, zur U-Bahn-Station.
Das Café Afghanistan war geöffnet, aber drinnen war niemand. Die niedrigen Tischchen und das Fehlen von Stühlen kamen Viktor schon völlig normal vor. Nur hatte es, als er das letzte Mal hier war, noch kein Nebenzimmer gegeben. Viktor trat noch mal vor die Tür, stampfte mit den [366] Stiefeln auf dem Gitter, um den festklebenden Schnee abzuklopfen, und ging dann wieder hinein.
Im Nebenzimmer stand der Billardtisch mit den verkürzten Beinen, und an der Wand verteilten sich drei altmodische Spielautomaten, ›Einarmige Banditen‹, wie man sie manchmal in amerikanischen Filmen aus den siebziger Jahren sieht. Hier schienen sie sogar sehr richtig am Platz. Viktor holte ein 50-Kopeken-Stück heraus, warf es in den vertikalen Schlitz und zog den Armhebel zu sich. Die drei Walzen im Automateninnern drehten sich, und gemalte Bananen, Zitronen und Tomaten sausten vorbei. Zwei Pflaumen und eine Banane fielen für ihn ab. Viktor lachte und wanderte zurück zur Bar. Er klopfte mit einer Münze an die Kaffeemaschine.
»Komme gleich!« hörte er eine unbekannte Männerstimme.
Kurz darauf rollte ein Mann von etwa vierzig hinter die Theke, dessen Gliedmaßen alle vorhanden waren, aber, wie es aussah, nicht alle funktionierten. Er trug einen Trainingsanzug.
»Was wollen Sie?« fragte er und starrte Viktor durchdringend an.
»Ist Ljoscha da?«
»Was willst du von ihm?«
»Ihn besuchen. Wir sind alte Bekannte.«
Der Mann schwieg ein Weilchen, dann schnitt er eine Grimasse.
»Dein Ljoscha ist aus der Bahn geflogen. Dem Suff verfallen, kurz gesagt.«
»Und wo ist er?«
[367] »Im Wohnheim, hier nebenan.«
Nachdem er noch Etage und Zimmernummer in Erfahrung gebracht hatte, verließ Viktor das Café.
Die Tür zu Ljoschas Zimmer war nicht abgeschlossen. Ein stickiger, übler Geruch stieg Viktor in die Nase. Im Zimmer war es dreckig. Unter dem gußeisernen Heizkörper standen Reihen leerer Wodkaflaschen. In der rechten Ecke lag der umgekippte Rollstuhl, und links, auf dem Bett, schlief Ljoscha, das Gesicht ins Kissen gedrückt. Er war angezogen, ein leeres Hosenbein hing seitlich heraus bis zum Boden.
»Ljoscha?« rief Viktor leise.
Ljoscha brummte etwas im Schlaf und drehte den Kopf zur Wand. Viktor beugte sich über ihn. Wirre Haare, verfilzter, fransiger Bart, das rote Gesicht – äußerlich begann Ljoscha einem gewöhnlichen Penner zu
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