Pinguine frieren nicht
Herr Retter!«
Viktor erhob sich. ›Herr Retter?‹ wiederholte er in Gedanken verständnislos. Dann begriff er: Er trug ja immer noch die Winterjacke des Katastrophenschutzministeriums.
»Hier, sehen Sie, was ich bei Ihnen gefunden habe!« Ilja Semjonowitsch hielt Viktor eine zweikopekengroße durchsichtige Flaschenscherbe vor die Nase. »Eine kleine Narbe wird natürlich bleiben. Der Knochen ist gestreift. Kommen Sie in ein paar Tagen vorbei, dann schaue ich Sie mir noch mal an!«
»Wieviel schulde ich Ihnen?« Viktor faßte in die Jackentasche.
»Sagen wir, Menschen behandeln ist jetzt mein Hobby! Und fürs Hobby nimmt man kein Geld. Übrigens garantiere ich auch für nichts! Sie sind selbst hergekommen!«
68
Abends saßen Nina und Sonja vor dem Fernseher und schauten sich eine Folge irgendeiner mexikanischen Serie an. Viktor zog sich in die Küche zurück. Er holte unter dem Tisch die Schreibmaschine hervor, wischte den Staub von ihr ab und legte ein Blatt Papier ein. Er wollte sich mit etwas beschäftigen, sich von dem Durcheinander verwirrter Gedanken ablenken, die in ihm eine Art Tauziehen veranstalteten. Nur daß ihr Tau Viktors Bewußtsein war. Die [362] Gedanken sprangen mal nach Tschetschenien, mal noch weiter in die Vergangenheit, bis sie plötzlich abrissen und Viktor die Frage stellten: ›Und was jetzt?‹ Diese Frage hing im luftleeren Raum und mit ihr auch Viktor selbst, der zum Boden hinuntersah, um zu prüfen, ob seine Füße den Linoleumboden noch berührten und ob überhaupt hier in der Küche die Schwerkraft noch funktionierte.
Er starrte auf das weiße Blatt Papier, aber sein Kopf schaltete sich nicht ein. Schwerelosigkeit zog durch sein Bewußtsein. Sie begann ihm auf die Nerven zu gehen. Schließlich tippte Viktor auf das Blatt genau diese Frage: ›Was jetzt?‹, und da ging es ihm gleich besser. Die Schwerelosigkeit hatte sich materialisiert, hatte sich in Text verwandelt und hatte Viktors Gedanken verlassen.
Er ging an Nina und Sonja vorbei ins Schlafzimmer, schloß die Tür hinter sich und legte sich auf das Doppelbett unter die Daunendecke.
Nachts im Schlaf spürte er einen fremden Körper neben sich. Er rutschte von ihm weg an die Bettkante.
Morgens wachte er spät auf. Die Uhr zeigte elf. Nina war nicht da, dafür fragte Sonja ihn, sobald er in Unterhose und T-Shirt im Wohnzimmer auftauchte, nach dem Pinguin.
»Er kommt«, antwortete Viktor ihr. »Bald!«
Dieses Versprechen genügte Sonja, und sie kehrte wieder zu ihrer Beschäftigung zurück. Sie beschäftigte sich mit ›Selbststudium‹, saß auf dem Sofa mit dem grünen Gobelinüberwurf, ein Buch als Unterlage, und schrieb Buchstaben in ein Heft.
Viktor ging in die Küche, setzte Teewasser auf und [363] blickte auf die Schreibmaschine. Er nahm sie hoch, um sie wieder unter dem Tisch verschwinden zu lassen, aber da entdeckte er, daß auf dem gestern eingelegten Blatt ein Text getippt war. Er stellte die Maschine zurück und setzte sich.
Was jetzt?
Witja, du fragst: was jetzt? Ich weiß es auch nicht. Ich möchte gern, daß wir trotz allem eine Familie bleiben – du, ich und Sonja. Wenn du nicht dagegen bist, könnten wir beide ein Kind bekommen, und dann wird alles besser. Das weiß ich. Meine Freundin und ihr Mann hatten auch Probleme, bis ihre Kinder geboren wurden. Ich verspreche dir zu gehorchen. Verzeih bitte wegen Kolja.
Deine Nina.
Viktor zog das Blatt aus der Maschine und las es noch mal. Er schüttelte den Kopf, wie um ein Hirngespinst zu verscheuchen.
›Was hat sie sich da nur in den Kopf gesetzt?‹ dachte er. ›Was für ein Unsinn! Ein Kind?…‹
Viktor seufzte tief. Er legte das Papier wieder ein, um eine Antwort zu tippen, aber dann hielt er inne, schob die Maschine unter den Tisch und sah aus dem Fenster.
Draußen schien die Sonne. Der Schnee im Hof glitzerte. Eine ältere Frau ging vorm Haus gegenüber spazieren und schob einen Kinderwagen vor sich her.
Minutenlang sah Viktor zu Mama Tonjas Fenster hinüber und dachte an die Kindheit. Gerade jetzt spürte er, daß ihm Wurzeln fehlten, oder wenigstens Fäden, die seine Gegenwart mit der Vergangenheit verbanden. Er existierte nun wie gewaltsam aus dem Leben gerissen in irgendeiner [364] virtuellen, irrealen Welt. Da waren zu wenige Menschen, die ihn wirklich wahrnahmen oder auch nur mal bemerkten, zu wenige, als daß er sich real fühlen konnte. Vielleicht war er wirklich nur ein Geist, dazu noch ein Geist, dem diese Wohnung ›zugeteilt‹
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