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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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›Kreuzchen‹, ohne Begräbnisse. Aber in die Vergangenheit konnte man nur in Gedanken und Erinnerungen zurück. Jetzt mußte er sich einen Ruck geben, tief Luft holen und herausfinden, wo Mischa war. Was war noch da, aus der Vergangenheit, und wie konnte man sich in diese Gegenwart wieder einleben, einpassen, [41] anpassen? Was sollte er tun, wenn alle Schulden beglichen waren? Und auch diese Schulden waren ja keine große Sache! Eine Reise nach Moskau zur Frau, genauer, zur Witwe des Bankiers Bronikowski. Die Hauptschuld bei Mischa zu begleichen war schon komplizierter, aber er würde es versuchen. Und heute damit anfangen. Der Morgenkaffee, auch wenn er scheußlich gewesen war, hatte seine Wirkung getan. Viktor war aufgewacht. Aufgewacht fürs weitere Leben.
    6
    Teofania empfing Viktor mit vereinzelten Sonnenstrahlen zwischen dicken Wolken. Ein kühler Wind blies ihm ins Gesicht. Über seinem Kopf rauschten die Blätter und lärmten die Vögel in den Bäumen. Auf dem Gelände der Universitätsklinik gingen die Patienten spazieren. Ein hochgewachsener Greis im blauen Morgenmantel schlurfte langsam die Allee entlang, hielt nach jedem Schritt inne und bewegte lautlos die Lippen, bevor er den nächsten Schritt machte.
    ›Herzinfarkt‹, dachte Viktor, während er den Alten überholte.
    Etwas weiter vorn befand sich die Tierklinik. Man mußte nur rechts um das Hauptgebäude herum und über den Hof gehen. Dort gab es ein eigenes Gelände, auf dem vor ein paar Monaten Mischa-Pinguin unter sorgsamer ärztlicher Aufsicht seine Spaziergänge absolviert hatte.
    Viktor war nervös. Irgendwas schnürte ihm die Brust [42] zusammen, als ob ihn ein unsichtbarer seelischer Nerv mit einem Schuldgefühl drückte. Er blieb stehen und sah in die Baumkronen hinauf, wartete, bis das Schuldgefühl ihn loslassen oder sich wenigstens etwas beruhigen und zurückziehen würde. Aber der bedrängte Nerv schmerzte bis in die Augen. Viktor verzog das Gesicht. Ihm war zum Heulen. Er blinzelte diesen Wunsch fort und ging weiter.
    Hinter dem Hauptgebäude führten zwei Krankenpfleger drei Hunde über den kurzgeschnittenen Rasen. Einer der Hunde hinkte stark mit einer Vorderpfote.
    Viktor grüßte die Krankenpfleger und fragte sie nach dem Arzt Ilja Semjonowitsch. Die Pfleger schickten ihn in den ersten Stock zum Büro des Stationsarztes.
    Auf dem Flur warf Viktor einen Blick in das Zimmer, in dem Mischa einst gelegen hatte. Neue Patienten konnte er keine erkennen. Er sah nur die Kinderbettchen und einen verchromten fahrbaren Tisch mit medizinischer Apparatur neben einem der Betten. Das Summen zeigte, daß die Apparatur auf dem Tisch arbeitete. Ein weiterer Kampf um das Leben eines vierbeinigen Patienten wurde geführt.
    Viktor fand Ilja Semjonowitsch tatsächlich im Stationsarztbüro. Der Arzt erkannte Viktor nicht gleich, begrüßte ihn aber sehr freundlich.
    »Erinnern Sie sich, Sie haben den Pinguin Mischa operiert?« brachte Viktor sich in Erinnerung.
    »Mischa?« wiederholte Ilja Semjonowitsch, und auf seinem Gesicht erschien ein trauriges Lächeln. »Natürlich erinnere ich mich. In all den Jahren hatten wir hier nur einen Pinguin! Und Sie… ich wußte doch noch Ihren Namen…«
    [43] »Solotarew«, soufflierte Viktor.
    »Richtig! Man hat hier damals drei Wochen lang auf Sie gewartet…«
    »Wer?«
    »Ich weiß nicht, Herren vom sportlich-geschäftsmäßigen Typ, wie man so sagt… Einer war ständig da. Die anderen beiden kamen morgens, sind mit Mischa spazierengegangen und abends wieder fortgefahren.«
    »Und dann?«
    »Dann? Dann war Mischa wieder bei Kräften. Und sie haben ihn mitgenommen. Kamen in zwei Geländewagen und zahlten noch für die Medikamente und die Behandlung, alles sehr korrekt. Zum Schluß haben sie noch mal nach Ihnen gefragt und, wenn ich mich nicht irre, etwas für Sie dagelassen… Nein, es war anders, ich hatte es schon vergessen… Die einen haben auf Sie gewartet, und die anderen haben Mischa mitgenommen. Und den Umschlag haben die dagelassen, die auf Sie gewartet haben! Wie kompliziert!« Der Arzt lächelte. »Wie man so sagt – da bräuchte es schon ein Gläschen für den Durchblick!«
    »Wo ist denn der Umschlag?«
    Der Arzt warf einen Blick hinüber zu dem verglasten Bücherschrank, dann sah er auf seinen Schreibtisch. Er setzte sich an den Tisch und zog erst eine, dann eine andere Schublade auf. Er zog einige Röntgenbilder heraus und dann einen braunen Umschlag. Den hielt er Viktor hin.
    »Da, hier geht

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