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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Wasserleitung. Er sah nach unten – da war ein weiterer ›Wirtschaftsplatz‹ mit Wasserhahn, Eimern und [50] Gießkanne. Er schlug einen Haken. Noch hundert Meter bis zu dem offenen Platz vor der Kirche. Er rieb sich im Gehen das geprellte Knie, eilte weiter und kam auf die Allee, die direkt zur Kirche führte. Die ganze Prozession war schon drinnen, und an der Kirchentür hatten zwei finster dreinblickende Kerle Aufstellung genommen.
    Plötzlich schoß ein zerlumpter, verwahrloster Junge aus dieser Tür. Er hielt ein Buch umklammert. Ein junger Priestergehilfe kam hinterher, und beide rannten direkt auf Viktor zu. Viktor blieb stehen, während der Junge weiterstürmte und sich im Laufen nach hinten umsah. ›Ein Dieb!‹ begriff Viktor, trat schnell einen Schritt vor und packte den Jungen am rechten Arm.
    Der verlor das Gleichgewicht, fiel hin und wälzte sich auf dem Asphalt der Allee. Der junge Priestergehilfe mit dem strähnigen Bärtchen und dem Pickelgesicht sprang zu ihm hin.
    Viktor überzeugte sich aus dem Augenwinkel davon, daß gleich der Gerechtigkeit genüge getan würde, und setzte seinen Weg fort. Der Priestergehilfe zerrte inzwischen dem Jungen das Buch aus der Hand, schlug es ihm ein paarmal auf den Kopf und eilte dahin zurück, von wo er gekommen war. Vor der Kirche holte er Viktor ein.
    »Vielen Dank!« sagte er mit einem demütigen Blick in Viktors Gesicht. »Die sind eine wahre Plage.«
    Viktor sah, daß der Priestergehilfe dem Jungen eine Bibel entrungen hatte.
    »Sie haben schon zwanzig Stück geklaut«, beklagte der Mann sich im Gehen, während er mit Viktor Schritt hielt. »Gott allein weiß, was diese Straßenkinder mit der Bibel [51] wollen, sie können doch weder lesen noch schreiben. Sie stehlen Sträuße von den Gräbern und verkaufen sie… Wenn sie sie wenigstens vor dem Friedhof verkaufen würden, aber manche fahren damit zum Kreschtschatik! Da sind die Leute unterwegs zu einem Rendezvous oder zu einer Hochzeit, kaufen die Blumen und ahnen nicht, daß die vom Friedhof kommen. Das ist doch nicht recht, das kann Unglück bringen…«
    Dem Priestergehilfen ging die Puste aus, und er verstummte. Sie traten gemeinsam durch die Kirchentür, und vielleicht sah die dort postierte Wache Viktor deshalb nur mißtrauisch an, ohne ihn aufzuhalten.
    In der Kirche brannten im wohltuenden Dämmerlicht Hunderte von Kerzen vor den Ikonen und auf den großen Gedenkleuchtern. Der Pope segnete mit monotoner heiserer Stimme den Toten. Der Priestergehilfe war gleich spurlos verschwunden. Viktor blieb allein zurück und ging näher zu den Menschen, die dicht um den teuren Sarg herumstanden. Er versuchte, einen Blick auf den Toten zu erhaschen, aber das war illusorisch. Alle standen Schulter an Schulter und ließen nicht den kleinsten Spalt. Er konnte nur geduldig warten, bis die Aussegnung zu Ende war. Nur tönte die schwermütige Stimme des Popen immer weiter, und man wußte schon nicht mehr, war es ein Psalm oder nur das Gebet für das Seelenheil des Verstorbenen. Erst als »…und Gottes Knecht Wassilij« an sein Ohr drang, begriff Viktor, daß es das Gebet war. Er hockte sich hin und spähte zwischen Hosenbeinen und dunklen Kleidern durch nach vorn, in der Hoffnung, Mischa-Pinguin zu sehen. Da fing er den seltsamen Blick eines älteren [52] Mannes auf, der sich nach ihm umgedreht hatte. Er stellte sich wieder gerade hin und kam sich wie ein ungezogener Schuljunge vor.
    Die Zeremonie dauerte eine halbe Stunde, danach wurde der Sarg aus der Kirche getragen. Wieder sah Viktor etwas Kleines zwischen den Trauergästen auftauchen und gleich wieder verschwinden. Er wartete ab, bis die ganze Prozession sich in die Allee ergoß, gesellte sich zu den letzten Teilnehmern und versuchte, vorn etwas zu erkennen, aber als er einen weiteren fragenden Blick auffing, beschloß er, abzuwarten und sich erst am Grab genauer umzusehen. Er fügte sich leicht und natürlich in diesen Trauerzug ein, als wäre die Teilnahme an der Trauerfeier und Beerdigung fremder Toter sein tägliches Brot. Auch die trauernden Freunde und Verwandten waren ihm keine Fremden. Offenbar hatte sein Gedächtnis sich wieder eingeschaltet und ihn rasch auf die Lage eingestellt, und jetzt erfüllte er wieder, wie früher, seine Trauerfunktion. Er war wieder Teil des Rituals, genau wie der Pope oder der Totengräber.
    Das Grab des frischverstorbenen Wassilij hatte man in der Nähe der Kirche ausgehoben. Dort wurde jetzt der Sarg auf ein mit

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