Pinguine frieren nicht
Punkt ist wichtiger. Und einen dickeren Punkt als den Tod gibt es nicht.
Etwa dreißig Meter von Pidpalyjs Grab lag ein säuberlich gefegter ›Wirtschaftsplatz‹ – ein Abfallcontainer, voll mit trockenen Zweigen und anderen Gartenabfällen. Neben dem Container ragte ein Wasserhahn aus der Erde. Unter dem Hahn standen ein Eimer und eine große eiserne Gießkanne mit leuchtendroten Registriernummern. Und am Container lehnte ein alter Spaten.
Viktor nahm den Spaten und pflanzte die Stiefmütterchen rings um das Grab herum. Dann begoß er sie großzügig. Schließlich setzte er hier, so schien es ihm, auch Pidpalyj ein Denkmal. Wohin man ringsum blickte, nichts als Marmor und ovale Fotografien, nur hier so ein fast namenloses Grab. Nur ein Täfelchen mit Nachnamen und Initialen des Toten auf dem vor Nässe dunklen Holz, das war wie eine provisorische Kennkarte. Ein Denkmal dagegen, das war schon ein Paß für die Ewigkeit. Der wurde nicht mehr umgetauscht.
Wieder setzte sich ein Schuldgefühl in Viktor fest, diesmal gegenüber Pidpalyj. Viktor wurde es schwer ums Herz, und nach einem Abschiedsblick auf das Grab machte er sich auf den Rückweg in Richtung Ausgang. Er kam an einem gewaltigen, zwei Meter hohen Marmordenkmal vorbei, das einen Verstorbenen in voller Lebensgröße zeigte. Im Adidas-Trainingsanzug und die Autoschlüssel eines Mercedes in der Hand. Der Mercedes selbst lugte hinter seinem Rücken hervor.
[48] Viktor blieb stehen und betrachtete das monumentale Porträt des Verstorbenen, da fiel es ihm ein: Das war doch jener Tote, der Mischa und ihn mit Ljoscha zusammengebracht hatte! Von hier aus hatte Ljoscha sie zum ersten Mal in seinem Wagen nach Hause gefahren.
RASTOROPOW, PJOTR WITALJEWITSCH . 15. 03. 1971 – 11. 10. 1997.
›Der elfte Oktober‹, überlegte Viktor. ›Sie haben ihn sicher am dritten Tag beerdigt… am dreizehnten… ein Unglückstag…‹
Wieder klingelte in der Ferne eine Straßenbahn, und Viktor setzte seinen Weg durch die Friedhofsallee fort. Über seinem Kopf flogen lärmend die Krähen. In ihr Gekrächz mischte sich ein ferner Trauermarsch, und als Viktor sich umsah, erblickte er weit hinten auf dem Friedhof eine Ansammlung von Menschen. Wieder wurde jemand in die Ewigkeit verabschiedet.
Zehn Minuten später, als schon die Eingangstore vor ihm auftauchten, sah Viktor, wie etwa anderthalb Dutzend große ausländische Wagen, darunter ein luxuriöser Leichenwagen, in den Friedhof hineinfuhren. Am Ende der Kolonne folgten vier identische schwarze Geländewagen. Der letzte hielt, und zwei Männer sprangen heraus. Sie stellten sich zu beiden Seiten des Tores auf, und der ganze Zug bewegte sich weiter die Allee zur Kirche und zum Krematorium hinunter.
Viktor lächelte beinahe, als ihm ein plötzlicher Gedanke kam. ›Ein bedeutendes Begräbnis ohne Pinguin…?‹ dachte er, während er der Wagenkolonne aufmerksam hinterhersah.
[49] Er legte einen Schritt zu, nahm eine Abkürzung und lief direkt durch die Gräberreihen, zwischen Grabsteinen und Einfriedungen hindurch zur Friedhofskirche. Namen und Lebensdaten zogen an ihm vorbei, aber sobald Viktor bei einem Denkmal genauer hinsah, stieß er sich schon an einer Einfriedung oder Bank, und dieser Weg, der ihm vor fünf Minuten noch so kurz vorgekommen war, zog sich hin. Die Kirche rückte nicht näher, sie kam ihm schon vor wie eine Fata Morgana. Sie schien im Dunst über dem Friedhof, dieser von Grabsteinen und marmornen Denkmälern übersäten Ebene, zu schweben und war unerreichbar wie das jenseitige Glück. Aber zehn Minuten später herrschten wieder die Gesetze der physikalischen Geographie, und Viktor war schon nah genug, um zu sehen, wie der glänzende Mahagonisarg mit den Bronzegriffen in die Kirche getragen wurde. Vier kräftige Männer in eleganten Anzügen trugen ihn. Die übrigen – und es waren nicht wenig, etwa vierzig Personen – stiegen aus den Autos und warteten geduldig. Einige Frauen waren darunter, und alle mit dunklen Brillen, vermutlich von Armani oder Versace. Lange schwarze Kleider, elegante Trauer.
Auf einmal hüpfte etwas komisches Kleines, Schwarz-Weißes von den Damen zur Kirchentür. Viktor konnte es nicht richtig sehen, er erhaschte nur Farbe und Größe. Sein Herz klopfte plötzlich froh. ›Mischa!‹ dachte er und freute sich, daß er wohl recht gehabt hatte: ein solches Begräbnis konnte nicht ohne Pinguin stattfinden!
Den Blick starr geradeaus gerichtet, stieß Viktor heftig an eine
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