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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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der Geschmack des nächtlichen Grießbreis mit Erdbeerkompott auf, der Geschmack der Kindheit.
    Die letzte Nacht ließ Viktor nicht los. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er viel zu einfach und natürlich eine Nacht des Glücks und der Leidenschaft ›gekauft‹. Und da war kein unangenehmer Nachgeschmack, keinerlei Gewissensbisse. Keine Scham, kein Schmerz, keine Kränkung. Was hatte Bronikowski gesagt? Das Alter kommt, wenn man es nicht mehr umsonst kriegt und sich noch schämt zu bezahlen? Viktor lachte finster. Da hatte Bronikowski sich geirrt. Und Viktor hatte auch gar nicht das Gefühl, daß er bezahlt hatte. Ja, er hatte diesem netten Mädchen einen halben Hunderter gegeben, einfach so geschenkt, aus Dankbarkeit für die schönen Momente. Oder sollte er ihr dankbar sein für die Sorglosigkeit, mit der er sich von dem grünen Schein getrennt hatte? Es war alles so leicht gegangen, so selbstverständlich, als hätten sie sich schon gekannt und als wäre alles nur ein weiteres Rendezvous in einem Kindergarten gewesen, in dem in Abwesenheit der Kinder offenbar allerhand Merkwürdiges und Romantisches passierte, wo im Keller mit Computern gehandelt wurde und man nachts Grießbrei kochte. Sicher spielte sich dort auch auf dem Dachboden lauter Ungesehenes, Unhörbares, Unbemerktes ab. Das Leben war so wunderbar geheimnisvoll. Aus irgendeinem Grund waren diese Geheimnisse vor der Antarktis nicht da gewesen. Vielleicht, weil Viktors zurückgezogenes und durchaus vollständiges Leben als Mitglied einer schon nicht mehr existierenden Familie ihn davon abgeschnitten hatte. In jenem Leben hatte er Verpflichtungen gehabt: Er fütterte den Pinguin Mischa und [39] schrieb traurige Nekrologe, bei deren Lektüre er manchmal die eine oder andere kümmerliche Träne über die künftigen Toten vergoß. Er kümmerte sich um Sonja und versorgte Nina mit Geld und dem Status einer Hausfrau und Ehefrau. Er hatte die Schlüssel zu seiner eigenen kleinen Welt gehabt. Jetzt war an der Tür zu seiner alten Welt ein neues Schloß aufgetaucht, er war zum Flüchtling geworden. Aber gestern abend hatte man ihn auf der Flucht aufgehalten und ihm ein bißchen Glück angeboten.
    In seinen Gedanken tauchte ein anderer Kindergarten auf, auch zweistöckig, mit den gleichen Sandkästen und Schaukeln, aber jetzt voller Kinder, dazwischen er selbst mit Topfhaarschnitt, braunen kurzen Hosen und blauem Pulli. Es gab Mittagessen, Grießbrei mit Erbeerkompott unter einem schmelzenden Eisberg aus Butter. Dann war Ruhestunde, und nach der Ruhestunde lernten sie das Häschenlied.
    ›Was Sonja wohl gerade macht?‹ überlegte Viktor. Sie war nie in den Kindergarten gegangen, spielte nicht mit anderen Kindern; ihre Kindheit sah so ganz anders aus.
    Viktor verließ das Café und sah sich um, bis er ein Telefon fand. Er ging hin und rief bei sich zu Hause an.
    Die langen Freizeichen machten ihn nervös. Wenn jetzt Nina dranginge? Was sollte er mit ihr reden? Vielleicht konnte er ja einfach fragen: ›Wie geht’s? Was gibt es Neues?‹
    Zum Glück nahm Sonja den Hörer ab. Sie verkündete fröhlich, daß Nina irgendwohin gegangen war und Onkel Kolja weder zu Hause übernachtet noch angerufen hatte; sie hatte die Katze hinausgelassen, und die Katze kratzte [40] zwar, war aber auch sehr gescheit, sie ging allein spazieren und kam irgendwann zurück und schabte an der Tür, bis man ihr aufmachte.
    Als sie alle neuesten Nachrichten erzählt hatte, fragte Sonja plötzlich: »Und wann kommst du nach Hause?«
    Viktor geriet ins Stottern und zögerte mit der Antwort. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht in ein paar Tagen…«
    »Komm, wenn keiner da ist!« schlug Sonja ihm vor. »Ich mache dir Rührei! Das kann ich schon, Tante Nina war für zwei Tage weg und hat mir nur Eier dagelassen und Brot. Und ich habe mir selber Rührei gemacht, ich bin schon groß. Hast du Mischa gesehen?«
    »Noch nicht«, antwortete Viktor. »Ich fahre heute zu ihm…«
    »Sag ihm viele Grüße, und er soll zurückkommen. Ohne ihn ist es langweilig.«
    »Ich sag es ihm«, versprach Viktor. »Und ich komme dich besuchen, wenn keiner da ist!«
    »Ruf oft an!« bat Sonja.
    »In Ordnung, morgen früh rufe ich dich wieder an!«
    Als Viktor den Hörer aufgelegt hatte, war ihm traurig zumute. Er wollte nach Hause. Eigentlich wollte er zurück in sein altes Leben, nur alles ein bißchen ruhiger und sicherer, ohne ›Kreuzchen‹ und Begräbnisse mit Pinguin. Oder wenigstens nur

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