Pinguine frieren nicht
nichts verloren… außer dem Gewissen…«
Viktor nahm den Umschlag und sah den Arzt fragend an.
[44] »Ja, ja, außer dem Gewissen«, wiederholte der. »Erst gestern mußte ich wieder zwei Hilfen davonjagen, sie haben Hundefutter aus der Küche geklaut! Natürlich ist es nicht ihre Schuld…« Der Arzt lachte finster. »Da hilft wahrscheinlich bloß noch die Genmanipulation…«
Viktor hörte Ilja Semjonowitsch schon nicht mehr zu. Er zog ein mit Computer ausgedrucktes Blatt und einen zusammengefalteten Zeitungsausschnitt aus dem Umschlag.
›Rufen Sie bis 20. Mai die Nummer 488-03-00 an. Es ist in Ihrem Interesse.‹ Keine Unterschrift.
Er faltete den Zeitungsausschnitt auseinander und verspürte einen Stich in der Brust. Aus einem schwarzen Trauerrahmen sah ihm vom Papier sein Ex-Chef Igor Lwowitsch entgegen. Der kurze Nekrolog informierte über seinen tragischen Tod bei einem Autounfall auf der Borispoler Chaussee. Der Chauffeur war zu schnell gefahren und hatte nicht mehr bremsen können, als ein Kipplaster mit Sand unerwartet auf die Fahrbahn gebogen war.
Viktor faltete den Zeitungsausschnitt wieder zusammen und steckte ihn in den Umschlag.
»Und wann haben sie Mischa geholt?« fragte er den Arzt.
»Das ist schon ein Weilchen her. Er war insgesamt sechs Wochen bei uns, rechnen Sie nach. Sie haben ihn ja damals selbst gebracht…«
Viktor nickte und gab Ilja Semjonowitsch zum Abschied die Hand.
Draußen im Hof blieb er stehen. Die Pfleger führten [45] immer noch die Hunde aus. Es waren kräftige Kerle, und sie erinnerten in ihren weißen Kitteln eher an Metzger als an Mitarbeiter einer Tierklinik. Einer der beiden musterte Viktor plötzlich scharf, und Viktor wurde unbehaglich zumute. Er wandte sich ab und ging rasch auf das Tor zu.
7
Vom Krankenhaus zum Friedhof ist es nicht weit. Selbst wenn man gesund ist. Und immer, wenn man zum Friedhof fährt, macht man sich Gedanken über das Leben. Über das eigene oder ein anderes, jedenfalls über das Leben und seinen Sinn. Und diese Gedanken stehlen die Zeit und die Aufmerksamkeit. Die Straßenbahn ratterte monoton und schläferte Viktor mit ihrem Dahinzuckeln ein. Und erst als vor den Fenstern die rote Ziegelsteinmauer auftauchte, dahinter die übervölkerte Stadt der Toten, flatterten die Gedanken über das Leben und seinen Sinn wie verschreckte Krähen davon. Die Straßenbahn wurde traurig langsamer und hielt zwanzig Meter vor dem Haupteingang der Totenstadt endgültig an.
Die Krähen krächzten. Es ging ein leichter Wind. Alte Frauen verkauften Ranunkeln und Stiefmütterchen. Straßenkinder boten frisch von den Gräbern geklaute Blumensträuße an.
Viktor blieb am Tor stehen. Ihm schien, er würde Pidpalyjs Grab problemlos wiederfinden. Trotzdem war es wohl ein Weg von fünfzehn, zwanzig Minuten.
[46] Er trat zu einer buckligen alten Frau in einer alten blauen Wattejacke. Vor ihr stand ein Holzkasten mit Blumensetzlingen fürs Grab, Stiefmütterchen und Immortellen.
»Wieviel?« fragte er.
»Fünf Griwni das Dutzend.«
Viktor holte einen Fünfer heraus und nahm ein paar blühende Stiefmütterchenpflanzen.
»Warte!« sagte die alte Frau, zückte eine Tüte mit der Aufschrift ›Marlboro‹, zerriß sie in zwei Hälften und wickelte eine davon um die Wurzeln der Stiefmütterchen.
Viktor ging ohne Hast die Friedhofsallee entlang. Seine Beine führten ihn von selbst zum Grab des Pinguinologen. Auf dem Grabhügel wuchs Gras. Viktor hockte sich hin und legte die Stiefmütterchen auf die Erde. Irgendwo in der Ferne klingelte die Straßenbahn.
Viktor sah sich um – kein Mensch war in der Nähe. Nur die Krähen lärmten, und in den Wipfeln der mächtigen Bäume rauschte der Wind.
›Ich habe keine unerledigten Geschäfte!‹ kamen ihm Pidpalyjs Worte in den Sinn. Viktor seufzte. Hier an diesem Grab, mit Pidpalyjs Begräbnis, hatte für ihn und Mischa ihr Schattenleben begonnen. Zumindest für ihn, Viktor, war dieses andere Leben längst zu Ende. Irgendwo hier schlief jetzt auch Igor Lwowitsch den ewigen Schlaf. Sicher hatte er jede Menge unerledigte Geschäfte und nie ausgeführte Pläne hinterlassen, außerdem eine Frau und einen Sohn in Italien, wo er sie vor der heutigen ukrainischen Wirklichkeit versteckt hatte. Er hatte es bestimmt nicht zufällig eilig gehabt, nach Borispol zu kommen – zum Flughafen. Und [47] da hatte man ihm in Form eines Kipplasters ein Bein gestellt. Jede Geschichte hat ihren Schlußpunkt. Nicht unbedingt ein Finale, der
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