Pink Hotel
trüb aus, wie der Dotter eines verdorbenen Eis. Die
Iris verlief in das Weiße, das vom Alter grau geworden war. Es war schwer
festzustellen, wohin er schaute, und ich dachte damals, er machte das
absichtlich so. »Immer schön weiterüben, Kindchen«, sagte er, wenn er mich sah
und schielend und schwindelerregend zwei Dinge gleichzeitig in den Blick zu
nehmen versuchte. Ich weiß immer noch nicht, ob er auf einem Auge blind war
oder ob sich seine Augen auf verschiedene Dinge zugleich einstellen konnten.
Dad und ich waren bei Opa in seinem Zimmer im Hospiz, als er starb;
Oma war gerade in die Cafeteria gegangen, um Kaffee zu holen. Es war ein weißes
Zimmer mit beigefarbenen Möbeln, über dem Bett eine gerahmte Meerlandschaft, am
Fenster ein kratziger blauer Sessel, auf dem ich kauerte, als Opa mit Atmen
aufhörte. Es kam mir vor, als versuchte das Hospiz, den Tod so banal wie
möglich zu machen. Ich las gerade eine Yachtzeitschrift, die ich von unten mitgenommen
hatte, den Yachting Digest oder so ähnlich, und
blätterte durch langweilige Fotos von Booten, als ich spürte, wie die Raumluft
sich ein wenig verdichtete. Ich wusste, dass er tot war, noch bevor ich aufschaute,
und am deutlichsten erinnere ich mich an die Magazinseite auf meinem Schoß. Das
Licht von den Milchglasfenstern traf so auf die [92] gewölbte Seite, dass das
Foto von einer Säule weißen Glanzes fast verdeckt wurde, doch darunter war ein
von oben fotografiertes kleines weißes Boot zu sehen, das durch die Wellen
pflügte. Die Atmosphäre des Bildes schnürte mir die Kehle zu, und ich blickte
auf. ›Melancholie‹, dachte ich bei mir, ›von großer Niedergeschlagenheit,
Traurigkeit oder Depressivität gekennzeichneter Gemütszustand.‹ Was für ein
schönes Wort, das man immer weiterspinnen konnte, das einen zu anderen Wörtern
führte, zu »Melange« und »cholerisch« beispielsweise, ja sogar zu »Liebe«.
Opas schielendes Auge war genau auf mich gerichtet, obwohl sein
»gutes« zu Dad hinübersah. In beiden Augenwinkeln klebte schmieriger Schlaf,
und Spuckebläschen hatten sich in seinen herabgezogenen Mundwinkeln gesammelt.
Warum hatte Dad sie nicht weggewischt? Das Seltsame daran war, dass mir dieser
Augenblick gar nicht besonders bedeutsam vorkam. Nicht so, als habe Großvaters
»Seele« genau in dem Moment seinen Körper verlassen. Er war einmal ein
gutaussehender Mann gewesen, ein Charmeur, und er hatte ständig richtig
bescheuerte Witze erzählt, meistens über Politiker, von denen ich noch nie
etwas gehört hatte. Er hatte immer bunte Fliegen getragen, und er hatte mir
Ein-Pfund-Münzen geschenkt, wenn Oma oder Dad nicht hinsahen, aber in meiner
selbstbezogenen, kindischen Weltsicht damals war er nicht mein Opa, wenn er
nichts von alledem tat. Wie er da so grau im Gesicht, dünn und leer auf dem
Hospizlaken lag, sah er nicht wie jemand aus, den ich einmal gekannt hatte. Er
hatte wie ein Bild oder eine [93] Skulptur ausgesehen, bevor er starb, und ebenso,
als er tot war. Als ich von meiner Yachtzeitschrift aufschaute, blinzelte ich
einfach nur.
»Dad?«, sagte ich schließlich, weil mein Vater den Blick nicht von
Opa wandte. »Dad?«, wiederholte ich.
»Ich glaub, er ist tot«, sagte er langsam, die Situation abwägend.
»Soll ich eine Schwester rufen?«, fragte ich ruhig.
»Nein«, sagte Dad.
»Er sieht mich an«, sagte ich.
»Nein«, sagte Dad wieder. Mein rechtes Bein, das ich untergeschlagen
hatte, war eingeschlafen und kribbelte, aber ich rührte mich nicht vom Fleck.
»Dad?«, fing ich wieder an.
»Nein«, wiederholte er.
Danach hatte Oma etliche Schlaganfälle. Allerdings war sie schon
immer ein wenig merkwürdig gewesen. Zum Beispiel sah niemand sie je essen. Nie.
Sie war der gute Geist des Cafés und eine wundervolle Köchin. Nur wegen ihr
hatten Opa und sie überhaupt damit angefangen, und Dads Speisekarte besteht
noch immer aus Omas Rezepten. Sie zauberte Fischpasteten, Lammeintöpfe und
sogar so raffinierte und gutbürgerliche Gerichte wie Käsesoufflé, aber nie
deckte sie für sich am Esstisch. Nichts machte sie glücklicher, als Dad oder
Opa ihr Kartoffelpüree mit Käse oder die Lasagne mit Hähnchenhack essen zu
sehen, aber in der Öffentlichkeit kamen ihr nur Wasser und Pulverkaffee über
die Lippen. Einmal, ich war wohl acht oder neun, wollte ich mir mitten in der
Nacht etwas zu trinken aus der Küche holen [94] und sah, wie sie sich über der
Spüle Ritz-Cracker in den Mund stopfte. Ich hielt im
Weitere Kostenlose Bücher