Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pink Hotel

Pink Hotel

Titel: Pink Hotel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Stothard
Vom Netzwerk:
Erinnerungskoffer –, besonders wie sich das Laken um seinen rechten
Oberschenkel gewickelt hatte, und wie der ehemals perfekte Waschbrettbauch jetzt
ein klein wenig der Schwerkraft nachgab. [88]  Eine ganze Weile gab es für mich
nichts anderes auf der Welt als den leichten Luftzug, der die weißen Vorhänge
bauschte, und das gurgelnde Tropfen eines Wasserhahns in der Küche. Nichts
außer nackt ausgestreckt neben einem schlafenden Mann zu liegen und mit den
Fingern über eine kühle Fläche am Kopfende des Bettes zu tasten, zu spüren, wie
die Nerven entlang meiner Wirbelsäule Stück für Stück erwachten. Ich drehte
mich auf den Rücken und versuchte mich zurechtzufinden, doch einen Augenblick
lang ergab alles keinen Sinn. Cocktailbars und Momentaufnahmen der Stadt,
staubige Straßen und blaue Miniröcke, alles flutete auf einmal gleich grellbunt
auf mich ein.
    Ich drehte mich auf die Seite und schloss vor der Dunkelheit die
Augen. Stundenlang lag ich so da und versuchte, meinen Atem zu bändigen. Erst
dachte ich wieder über David, dann über August nach. Ich schluckte, und der
Körper neben mir regte sich. Es war ein merkwürdiges Gefühl, fast so, als
spürte ich noch seine Berührung auf meiner Haut, als hätte ich Abdrücke von
ihm. Ich befahl mir, mich zu entspannen, normal zu sein, einzuschlafen, aber es
fühlte sich an, als krabbelten zwischen meinen Muskeln Ameisen, meine
schwitzende Haut ein einziges Gewimmel. In der Luft im Raum war nicht genug
Sauerstoff. Ich atmete Augusts Kohlendioxid ein, und mein Atem hörte sich so
laut an, dass ich mich wunderte, wieso er davon nicht aufwachte. Außerdem war
es in seiner Wohnung nicht dunkel genug, und mittlerweile drangen auch schon
die ersten Geräusche des erwachenden Tages zu mir. Ich hielt die Nähe nicht
aus, [89]  das Gewicht seines Körpers auf der Matratze, seinen Atem an meinem Ohr,
den Gedanken an die Träume, die er hatte. In der Dunkelheit sah es so aus, als
ob er lächelte. Irgendwann schob ich Augusts Decke behutsam von meinen Beinen,
schälte meine nervösen Gliedmaßen zentimeterweise von der Matratze und trat
schweratmend die Flucht an. Ich stopfte Lilys rotes Kleid in meinen Rucksack
und zog die Reißverschlüsse ihrer Stiefel unter Augusts Jogginghose zu. Das
Polaroid-Hochzeitsfoto aus dem Enkidu-Buch legte ich behutsam auf das Kissen
neben Augusts schlafenden Körper.
    Vor seinem Haus zündete ich mir eine Zigarette an, schwindlig vor
Erleichterung. Leere und Luft trafen auf meine Haut. Wolkenkratzer säumten die
belebte Straße. Genüsslich an meiner Zigarette ziehend, ging ich zu einer
Bushaltestelle am oberen Ende der Straße. Lilys Stiefel klackten auf dem
Gehweg, während ich ihre Lederjacke über dem T-Shirt zusammenzog, das August
mir für die Nacht geliehen hatte. Die Morgenluft war kalt im Schatten der
Hochhäuser von L.A. und heiß in den Lichtkanälen,
die sich zwischen und über die Gebäude schoben. Mein Flugzeug zurück nach
London sollte am Nachmittag gehen.

[90]  11
    Als ich elf war, dünn und schlaksig, mit großen Zahnlücken,
die noch auf die zweiten Zähne warteten, schenkte mir Opa – Dads Vater – einen
Zauberkasten und ein Wörterbuch. Auch wenn ich wohl nie erfahren werde, was ihn
bewog, genau diese Geschenke auszusuchen, werde ich ihn dafür immer mögen. Im
Zauberkasten waren rote Plastikhütchen, bunte Murmeln, kleine
Schaumstoffkaninchen und gezinkte Spielkarten. Zu Hause hing der einzige
Ganzkörperspiegel innen an der Tür unseres beigegekachelten Badezimmers.
Stundenlang hockte ich auf dem Badewannenrand und übte Zaubertricks vor dem
Spiegel, aber sobald sich jemand anderes als mein eigenes Spiegelbild diese
Kunststücke ansah, vermasselte ich es. Mit dem Wörterbuch war es ähnlich: Meine
Lieblingswörter sprach ich praktisch nie laut aus, sondern legte mir einen
Vorrat davon an und benutzte sie nur in Selbstgesprächen. »Betörend«, murmelte
ich vor dem Einschlafen vor mich hin und dachte dabei an summende Hummeln.
»Sakral«, flüsterte ich in der Badewanne. »Eskalieren. Nebulös. Amortisation.«
    Damals gehörte meinen Großeltern das Café und die Wohnung. Sie
schliefen im Schlafzimmer, Dad in dem [91]  Kinderzimmer, das später mein Zimmer
wurde, und ich auf einem Klappbett im Wohnzimmer. Als ich elf war, starb Opa
während meiner Weihnachtsferien an Prostatakrebs, einen Monat nachdem er mir
den Zauberkasten und das Wörterbuch geschenkt hatte. Eines seiner Augen
schielte und sah gelblich

Weitere Kostenlose Bücher