Pink Hotel
Dunkeln den Atem an und
rührte mich nicht, während sie die Verpackung aufriss und die salzigen gelben
Kekse verschlang. Sie trug ein Baumwollnachthemd mit Teddybärenmuster, und das
Haar fiel ihr lose ins Gesicht; Brösel blieben an ihrem Kinn hängen, und ich
sah, wie sich die Keksklumpen ihre lange dünne Kehle hinabmühten, als hätte
eine Schlange eine Maus im Ganzen verschluckt. Am nächsten Morgen war der Müll
rausgebracht worden, bevor ich aufwachte, und es war kein Krümel mehr zu sehen.
Sie vergötterte Dad. Wie über alles andere verlor sie auch darüber
kein Wort, aber er war ihr Ein und Alles. Bevor sie die Schlaganfälle hatte,
sorgte sie dafür, dass ich zu essen hatte, überwachte meine Hausaufgaben, fuhr
mich zu Fußballturnieren und war fast immer nett zu mir, doch all das geschah
ihm zuliebe. Sie hat mich nie wirklich angenommen, weil sie nicht billigte,
unter welchen Umständen ich auf die Welt gekommen war. Jahre später fragte ich
Dad nach ihren Essgewohnheiten, und er glaubte mir nicht, weil ihm nie
aufgefallen war, dass sie nicht mitaß. Dad hatte nie bemerkt, wie Oma uns alle
dabei beobachtete, wie wir hinunterschlangen, was sie gekocht hatte, und was
für ein Vergnügen ihr jede fetttriefende Fritte, jedes Stück knusprige Quiche
machte, das sie in der Caféküche zubereitete. Vielleicht hatte es etwas mit den
Kriegsrationierungen zu tun, oder es war ein verirrtes Relikt ihrer
irisch-katholischen Kindheit. Wenn sie das Toastbrot für ein Pommes-Sandwich
mit Butter bestrich, glich sie einem frischgebackenen [95] Ehemann, der seine
junge Frau mit Sonnenöl einreibt, oder einem Pfarrer mit dem Rosenkranz. Schon
komisch, was Dad alles nicht auffiel. Er bemerkte nicht mal, dass sie manchmal
flüsternd Selbstgespräche führte, nervös und hektisch, besonders beim Kochen.
Ein paar Monate nach Opas Tod hatte Oma ihren ersten Schlaganfall.
Ich übte gerade meine Zaubertricks im Badezimmer, da brach sie mitten im Café
zusammen. Als sie einen gurgelnden, abgebrochenen Schrei ausstieß, stürzten Dad
und ich raus in den Flur und die Treppe runter. Elf Jahre alt und barfuß, stolperte
ich in rasendem Tempo nach unten. Sie saß auf dem Boden; eine Gesichts- und
Körperhälfte war eingefallen, die Muskeln schlaff. Ich griff nach dem Telefon
und rief einen Krankenwagen, während Dad mit der wild um sich Schlagenden rang.
Sie erholte sich nie mehr ganz, besonders weil die Krankenschwestern sie
dauernd zum Essen nötigten. Nach weiteren Schlaganfällen starb sie sechs Monate
später ebenfalls in einem Hospiz. Wieder einmal quälte mich der Gedanke, wann
die »Seele« wohl den Körper verließ und ob sie sich verflüchtigen konnte, bevor
ein Mensch richtig starb. Unsere Nachbarn und die Leute im Krankenhaus sagten
ständig, Oma sei »nicht sie selbst«, aber was bedeutete das? Schon vor dem
ersten Schlaganfall war sie seltsam gewesen. Hatten ihre seltsamen Züge zu
ihrem »Selbst« gehört, oder waren sie eine Abweichung davon? Wann hatte sie
aufgehört, sie selbst zu sein? Wenn sie nicht wusste, dass sie sich verändert
hatte, war sie dann trotzdem unglücklich? Was war aus ihrem »Selbst« geworden?
Wie hatte sie es verloren?
[96] Nachdem meine Großeltern beide tot waren, schlief ich eigentlich
nur noch. Dann wachte ich in kalten Schweiß gebadet auf und bildete mir ein,
ich wäre verrückt geworden. Mein Hirn war vollkommen leer, wie ausgebombt, ohne
Worte. Meine schlimmsten Panikattacken sind die wortlosen. Das ist dann kein
echtes Grauen, sondern ein kurzes Zurückversetztsein in jene amorphe
vorsprachliche Zeit als Baby, als das Grauen sich noch nicht mit Worten bändigen
ließ. Dann habe ich auch Angst vor dem Tod, denn weder Opa noch Oma konnten in
den Wochen, bevor sie starben, noch sprechen. Bei Oma ging es eine schreckliche
Stufe nach der anderen abwärts. Zuerst brachte sie ihre Pronomen durcheinander,
dann gingen ihr die Substantive verloren, bis sie schließlich in eine Art
Nonsense-Sprache verfiel.
»Ich möchte jetzt wirklich lieber abfallen. Heute dummel ich bloß«,
sagte sie zum Beispiel. »Als ich damals war, hab ich alles gewusst, und jetzt
weiß ich nichts.« Aber nicht lange, und es mutierte zu »Schreckenshaine« und
»Nickelasche«, »Schlungenzungen« und »töpfisch tot«. Diesen Unsinn redete sie
ununterbrochen, vermutlich deshalb, weil ein Schweigen ganz ohne Wörter, die
die Gedanken ordnen, noch fürchterlicher ist.
[97] 12
Der Sommer, in dem ich in Los Angeles
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