Pink Hotel
Bikinihöschen an
und posierte im Wohnzimmer für David. Er küsste erst eine Sommersprosse auf
meiner Schulter und wandte sich dann meiner Wirbelsäule zu.
[242] 30
Wenn David nicht da war, ging ich manchmal zu Julie’s
Place. Es war, als forderte ich das Schicksal heraus, jetzt, wo Richard mich
seit einiger Zeit in Ruhe gelassen hatte. Vorher fuhr ich jeweils ins Hostel
und zog Lilys schicke Sachen an – das purpurrote Seidenkleid, dazu die
tropfenförmigen Ohrringe, oder das hautenge kleine Schwarze und die roten
Stilettos –; danach zog ich mich um, stieg wieder in Davids Klamotten und
wischte Lilys Lippenstift ab, ehe ich nach Hause fuhr. Vanessa und Tony hatten
ihren Spaß daran. Sie lächelten, wenn ich das Hinterzimmer in Jeans betrat und
in Highheels und Kleid wieder verließ. Keine Ahnung, was sie sich dabei
dachten, aber offenbar störte es sie nicht.
Ich fand es faszinierend, wie sich Julies Verhalten mir gegenüber
geändert hatte, kein Vergleich zu dem abfälligen Schulterzucken, als ich die
Kneipe zum ersten Mal betreten hatte. Ihr Blick war jetzt merkwürdig suchend,
fast so, wie David mich ansah, nur flüchtiger. Es schien, als würde sie mich
wirklich wahrnehmen, während sie mich früher angesehen hatte, als warte sie
darauf, dass ich mich in Luft auflöste. Jetzt legte sie den Kopf schräg und
lächelte mich wissend an, als wäre sie meine beste [243] Freundin. Und sie
behauptete nicht, ich sei zu jung, um Alkohol zu trinken. Was daran liegen
mochte, dass ich Lilys Klamotten selbstsicherer trug. Ich begann, den Leuten in
Julie’s Place Fragen zu stellen: Wie lange würdest du in einem Restaurant auf
dein Date warten? Bist du schon mal verhaftet worden? Würdest du lieber ein Bad
nehmen oder duschen? Welcher Superheld wärst du gern? Wenn du einen deiner
Sinne hergeben müsstest, für welchen würdest du dich entscheiden? Wenn du ein
Körperteil hergeben müsstest, für welches würdest du dich entscheiden? Hast du
irgendwo Piercings? In meiner Erinnerung an diese Abende, an denen ich immer
etwas angetrunken war, kommen massenhaft Leute vor, dazu ein unstillbares
Verlangen herauszufinden, was sie glücklich oder traurig machte. Doch die
Angeberei, die ich in diesen Gesprächen heraushörte, erschreckte mich – nicht
einer von ihnen sagte die Wahrheit. Ich mache sie aber nicht dafür verantwortlich.
Ich glaube, es ist wirklich sehr schwierig, sich mit der Wahrheit auszukennen.
Die Wahrheit zu sagen, ist genauso schwierig, wie sie in anderen Menschen zu
erkennen. Diese Leute boten mir mundgerechte Brocken ihrer Identität an und
scherzhafte Sprüche, die mir auf die Nerven gingen und nichts zu bedeuten
hatten.
»Piercings? Da kannst du dich nachher bei mir auf die Suche machen…«
»Ich möchte Batman sein, wenn du Cat
Woman bist…«
»Auf dich würde ich ewig warten, Kleine…«
Mir kam es so vor, als hätte ich Abend für Abend mit [244] dem
verzweifelten Versuch verbracht, Scherenschnitte in eine dreidimensionale Form
zu bringen.
Julie redete entweder langsam, wie ein Mund auf dem Mond, oder wie
ein Maschinengewehr, ohne Punkt und Komma, als wäre ich ein Kassettenrekorder,
der gleich am Ende seiner Kapazität ankommen würde. Meistens jedoch prasselte
ein Wortschwall auf mich nieder. »Weißt du, wann ich wusste, dass ich heroinsüchtig
bin?«, sagte sie eines Abends zu mir, die rissigen Ellbogen auf die Theke
gestützt und mit wild gestikulierenden Händen. »Denn, glaub mir, zuerst war es
für mich eine reine Partydroge. Doch dann war Silvester, und ich sitze im
F-Train nach Manhattan in einem roten Kleid von Yves Saint Laurent, und da war
dieser Penner neben mir, der sich gerade einen Schuss gesetzt hat – aber er
nickt ein und wird wieder wach, weißt du, was einnicken ist? Er ist glücklich.
Er ist zugedröhnt. Und ich wusste, dass ich Hilfe brauchte, weil ich wie er
sein wollte. Ich wollte kein Seidenmischgewebe tragen und mir in einem
Apartment in der Upper East Side Gemälde ansehen, ich wollte mich unbeobachtet
in irgendeiner Ecke abschießen.«
»Hast du Richard und Lily deshalb Geld geliehen, damit sie Drogen
für die Partys kaufen konnten?«, unterbrach ich sie. »Waren sie Drogendealer
oder so was? Vielleicht ist er deshalb einfach, na ja, verschwunden?«
»Richard?«, sagte sie. »Richard?«
»Lilys Mann«, half ich nach.
»Ich weiß, wer Richard ist!«, sagte sie. An diesem Abend war sie
total zugedröhnt. Ihre Pupillen waren so [245] erweitert, dass
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