Pink Hotel
schmales, elegantes Bike mit freiliegendem Motor
und Ledersitzen, genau wie das auf Lilys Foto. Die [248] anderen Maschinen waren
größer, wie die meisten, die ich vor einiger Zeit in den Werkstätten gesehen
hatte.
»Richard stand also total auf Motorräder, oder?«, fragte ich Julie.
»Tut mir leid, dass ich Umstände mache«, lallte sie.
»Schon in Ordnung. Fährst du immer noch
mit Richard?«
»Ich hab mein Bike vor Jahren verkauft«, sagte sie. »Ich bin nicht
mehr damit gefahren, war den Stress nicht wert.«
»Fährt Richard denn noch?«
»Klar, Lily, klar. Du weißt doch, dass er das nicht aufgeben würde.«
»Ich bin nicht Lily«, sagte ich. Ich hatte das hautenge schwarze
Kleid und ihre roten Stilettos an, die drückten und dafür sorgten, dass ich
sehr aufrecht dastand.
Sie schwieg. Ihren schmächtigen Körper gegen meine Schulter gelehnt,
machte ich mich auf die Suche nach dem Schlafzimmer. Vom Wohnzimmer gingen zwei
Türen ab. Das eine Zimmer enthielt einen Futon, eine Schuhsammlung – sicher
über hundert Paare – und eine kleine Auswahl Kinderbücher: Lewis Carroll, die Fünf-Freunde -Reihe, Eloise. In
dem anderen Zimmer stand ein altmodisches Himmelbett, von dem bunte Schals
herabhingen. An der Wand waren ein Paar Ballettschuhe befestigt, und auf jeder
Oberfläche standen – auf Spitzendeckchen – Erinnerungsstücke einer kleinen
Ballerina. Auf dem Nachttisch saß ein Teddybär, aus dessen Ohr Füllmaterial
quoll, neben einem Exemplar von [249] Äsops Fabeln, einem Becher aus geschliffenem
Glas und einem Thermometer. Vorsichtig ließ ich Julie zwischen den Dekokissen
und den rosa Seidendecken auf das Bett sinken und fragte mich, ob sie schon
immer so dünn gewesen war. Trotzdem war sie schön, wie eine alternde Puppe.
»Wer bist du?«, sagte Julie. Sie stierte mich mit gerunzelter Stirn
an.
»Ich bin nicht Lily«, sagte ich. Meine Füße schmerzten in den
Stilettos.
»Nein«, sagte sie. »Nein, wohl nicht.« Die Lider über ihren
blutunterlaufenen Augen flatterten und schlossen sich dann.
»Hattest du mal was mit Richard?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Julie. »Er liebte Lily. Es ist jammerschade, dass sie
sich getrennt haben, sie waren so ein tolles Paar.«
»Was soll das heißen, sich getrennt
haben?«
»Ach, wie’s halt so geht. Nicht lange vor Lilys Tod ließen sie sich
scheiden. Vielleicht ein, zwei Monate vorher. Das wissen wohl nicht allzu viele
Leute. Aber mir hat er’s erzählt. Er war mein Freund.«
»Wieso haben sie sich getrennt?«
»Ihre Affäre, seine Depression. Und Geldprobleme, glaube ich. Aber
du bist wirklich entzückend«, schnurrte Julie. »Du bist eine Göttin. Ihr zwei
solltet noch einen Versuch machen; rausfinden, ob es funktioniert. Er liebt
dich so sehr.«
»Ich bin nicht Lily«, wiederholte ich ein drittes Mal.
»Das weiß ich doch, das weiß ich doch«, lallte sie.
[250] Ich verließ den säuerlichen Geruch von Wodkaschweiß und unruhigem
Schlaf, der sich mit jedem Ausatmen immer weiter in Julies Schlafzimmer
ausbreitete. Ich fragte mich, ob es stimmte, was sie erzählt hatte, oder ob die
Drogen sie verwirrten, und betrachtete das Foto von ihr und Richard, beide
jung, mit ihren Motorrädern. Dann ging ich zum Wohnzimmerfenster hinüber und
drückte die Stirn gegen das kalte Glas, öffnete es dann und atmete den Geruch
von Kiefernnadeln und Nachtluft ein.
Im Radio hatten sie zuvor gesagt, die Temperatur sei nachmittags auf
knapp vierzig Grad gestiegen, doch es war ein kühler, ruhiger Abend mit einem
pechschwarzen Himmel, durchsetzt vom Licht der Straßenlaternen und
Leuchtreklamen, die wie ein Glühwürmchenschwarm aussahen. Wenn sie wirklich
geschieden waren, dann fragte ich mich, ob sie Richard wegen David verlassen
hatte, und auch, was ich davon halten sollte. Wer hatte die Briefe über
Regenschirme und Liebe verfasst? Hatte Richard Lily wegen ihrer Affären weh
getan oder vielleicht auch wegen ihrer gemeinsamen Geldsorgen? Ich kam mir sehr
klein vor, all das verwirrte mich, und so lenkte ich mich mit Gedanken an das
Café in London ab. Dort war es jetzt elf Uhr vormittags, und Dad stand in einer
heißen Dunstwolke, während vor ihm im siedenden Pommesöl Blasen platzten und
Kartoffelstreifen bräunten oder er gerade Brotscheiben für Sandwiches
zurechtlegte. Bestimmt hatte er irgendeinen Jugendlichen eingestellt, der meine
Wochenendschichten übernahm. Falls es ein Junge war, würde er ein paar Wochen [251] brauchen,
um zu merken, dass
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