Pippi Langstrumpf
nicht, aber er sah etwas anderes: einen Stier! Oder richtiger, der Stier sah Thomas, und dem Stier gefiel Thomas nicht, denn es war ein böser und durchaus nicht kinderlieber Stier. Er kam mit gesenktem Kopf und einem unheimlichen Brüllen angestürmt, und Thomas fing vor Schreck an zu schreien, so daß man es im ganzen Wald hörte. Pippi und Annika hörten es auch und kamen gerannt, um zu sehen, was Thomas’ Geschrei bedeutete.
Da hatte der Stier Thomas bereits auf die Hörner genommen und warf ihn hoch in die Luft.
„So ein unverständiges Tier“, sagte Pippi zu Annika, die ganz verzweifelt weinte. „So etwas darf man doch nicht tun! Er macht ja Thomas’ weißen Matrosenanzug ganz schmutzig. Ich muß mal ein vernünftiges Wort mit dem dummen Stier reden.“
Und das tat sie. Sie lief hin und zog ihn am Schwanz.
„Verzeihung, daß ich unterbreche“, sagte sie, und da sie kräftig zog, drehte sich der Stier um und sah ein neues Kind, 54
das er auch auf die Hörner nehmen wollte.
„Wie gesagt, Verzeihung, daß ich unterbreche“, sagte Pippi wieder. „Und verzeih, daß ich abbreche “, fügte sie hinzu und brach das eine Horn des Stieres ab. „Dieses Jahr ist es nicht modern, mit zwei Hörnern zu gehen“, sagte sie. „Dieses Jahr tragen alle besseren Stiere nur ein Horn. Wenn überhaupt eins“, sagte sie und brach das andere auch ab.
Da Stiere in den Hörnern kein Gefühl haben, wußte der Stier nichts davon, daß seine Hörner weg waren. Er stieß frisch drauflos, und wenn es jemand anders als Pippi gewesen wäre, dann wäre das Kind zu Mus geworden. Aber Pippi machte das ja nichts aus.
„Hahaha, hör auf, mich zu kitzeln!“ schrie Pippi. „Du ahnst nicht, wie kitzlig ich bin. Haha, hör auf, hör auf, ich lache mich tot!“
Aber der Stier hörte nicht auf, und schließlich sprang Pippi auf seinen Rücken, um eine Weile Ruhe zu haben. So besonders ruhig wurde es aber nicht, denn dem Stier gefiel es durchaus nicht, Pippi auf dem Rücken zu haben. Er krümmte sich nach rechts und links, um sie abzuwerfen, aber sie klemmte nur ihre Beine fest und blieb sitzen. Der Stier raste auf der Wiese hin und her und brüllte, so daß es wie Rauch aus seinen Nasenlöchern kam. Pippi lachte und schrie und winkte Thomas und Annika zu, die ein Stück entfernt dastanden und wie Espenlaub zitterten. Der Stier drehte sich immer rund herum und versuchte, Pippi abzuwerfen.
„Hier tanze ich mit meinem kleinen Freund“, summte Pippi und blieb sitzen. Schließlich wurde der Stier so müde, daß er sich auf die Erde legte und wünschte, es gäbe keine Kinder auf der Welt. Übrigens hatte er niemals gefunden, daß Kinder so besonders notwendig waren.
„Hast du die Absicht, jetzt deinen Mittagsschlaf zu halten?“
fragte Pippi höflich. „Dann will ich nicht stören.“
Sie stieg von seinem Rücken herunter und ging zu Thomas 55
und Annika hin. Thomas hatte ein bißchen geweint. Er hatte eine Wunde am Arm, aber Annika hatte ihr Taschentuch herumgewickelt, und es tat nicht mehr weh.
„O Pippi“, rief Annika ganz aufgeregt, als Pippi kam.
„Sch“, flüsterte Pippi, „weck den Stier nicht auf! Er schläft, und wenn wir ihn wecken, bekommt er bloß schlechte Laune.“
„Herr Nilsson, Herr Nilsson, wo bist du?“ schrie sie in der nächsten Minute mit lauter Stimme, ohne sich um den Mittagsschlaf des Stieres zu kümmern. „Wir müssen nach Hause gehen!“
Und wirklich, da saß Herr Nilsson oben auf einer Kiefer. Er sog an seinem Schwanz und sah ganz traurig aus. Für so ein kleines Äffchen war es ja nicht besonders vergnüglich, allein im Wald gelassen zu werden.
Jetzt sauste er von der Kiefer herunter und auf Pippis Schulter, und er schwenkte seinen Strohhut wie immer, wenn er richtig zufrieden war.
„Na, diesmal bist du nicht Hausgehilfe geworden“, sagte Pippi und strich ihm über den Rücken. „Ach richtig, das war ja gelogen“, fügte sie hinzu. „Ja, aber wenn es wahr wäre, könnte es ja nicht gelogen sein“, setzte sie ihre Überlegungen fort. „Ihr sollt mal sehen, vielleicht war es doch so, daß er wirklich Hausgehilfe in Surabaja war. Und jetzt weiß ich, wer in Zukunft die Fleischklöße machen soll.“
Und dann wanderten sie nach Hause, Pippi immer noch mit klatschenden Kleidern und schwappenden Schuhen und nassen Haaren. Thomas und Annika fanden, daß sie einen wunderbaren Tag gehabt hatten, trotz des Stiers, und sie sangen ein Lied, das sie in der Schule gelernt hatten. Es war
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