Pippi Langstrumpf
Pippi war zeitig aufgestanden und hatte Herrn Nilsson Saftwasser und Brötchen ans Bett gebracht. Er sah so niedlich aus, wie er in seinem hellblauen Nachthemd dasaß und das Glas mit beiden Händen festhielt. Dann hatte sie das Pferd gefüttert und gestriegelt und ihm eine lange Geschichte von ihren Reisen auf dem Meer erzählt. Danach war sie ins Wohnzimmer gegangen und hatte ein großes Bild auf die Tapete gemalt. Das Bild stellte eine dicke Dame in rotem Kleid und schwarzem Hut dar. In der einen Hand hielt sie eine gelbe Blume und in der anderen eine tote Ratte. Pippi fand, daß es ein sehr schönes Bild war. Es schmückte das ganze Zimmer. Dann hatte sie sich an ihre Klappkommode gesetzt und alle ihre Vogeleier und Schnecken angesehen. Da waren ihr alle die wunderbaren Plätze eingefallen, wo sie und ihr Vater das alles gesammelt hatten, und die kleinen, netten Läden in der ganzen Welt, wo sie die vielen schönen Sachen gekauft hatten, die jetzt in den Schubladen der Kommode lagen. Danach hatte sie versucht, Herrn Nilsson Schottisch tanzen zu lehren, aber er hatte nicht gewollt. Einen Augenblick lang hatte sie überlegt, es mit dem Pferd zu versuchen, aber dann war sie lieber in den Holzkasten gekrochen und hatte den Deckel über sich zugemacht. Sie hatte gespielt, daß sie eine Sardine in einer Sardinenbüchse sei, und es war bloß schade 84
gewesen, das Thomas und Annika nicht dabei waren, dann hätten sie auch Sardinen sein können.
Aber jetzt fing es an, dunkel zu werden. Sie preßte ihre kleine Kartoffelnase gegen die Fensterscheiben und sah in die Herbstdämmerung hinaus. Da fiel ihr ein, daß sie schon seit ein paar Tagen nicht geritten war, und sie entschloß sich, jetzt gleich einen Ritt zu machen. Das würde ein netter Abschluß für einen angenehmen Sonntag sein.
Sie setzte ihren großen Hut auf, holte Herrn Nilsson, der in einer Ecke saß und mit Murmeln spielte, sattelte das Pferd und hob es von der Veranda herunter. Und dann ritten sie los, Herr Nilsson auf Pippi und Pippi auf dem Pferd.
Es war ziemlich kalt, die Wege waren gefroren, und es klirrte ordentlich, als sie angeritten kamen. Herr Nilsson saß auf Pippis Schulter und versuchte, ein paar Zweige von den Bäumen zu erfassen, an denen sie vorbeikamen. Aber Pippi ritt so schnell, daß es ihm nicht gelang. Die vorbeisausenden Zweige klatschten ihm nur ein paarmal tüchtig um die Ohren, und er hatte Mühe, seinen Strohhut auf dem Kopf zu behalten.
Pippi ritt durch die kleine Stadt, und die Menschen drückten sich ängstlich gegen die Hauswände, als sie vorbeigestürmt kam.
Die kleine Stadt hatte natürlich einen Marktplatz. Da standen ein kleines, gelb gestrichenes Rathaus und auch einige alte, hübsche, einstöckige Häuser. Ein großes Haus war auch dort.
Das war ein dreistöckiger Neubau, der „Wolkenkratzer“
genannt wurde, weil er höher war als alle anderen Häuser der Stadt.
An so einem Sonntagnachmittag wirkte die kleine Stadt sehr still und friedlich. Sie schien vor sich hin zu träumen. Aber plötzlich wurde die Stille von lauten Rufen unterbrochen:
„Es brennt im Wolkenkratzer! Feuer! Feuer!“
Von allen Seiten kamen Menschen mit erschrockenen Augen angelaufen, ein Feuerwehrauto fuhr unter beharrlichem Getute 85
durch die Straßen, und die kleinen Kinder der Stadt, die sonst immer fanden, daß es so lustig war, das Feuerwehrauto zu sehen, weinten vor Schreck, weil sie glaubten, daß es auch in ihrem Hause anfangen könnte zu brennen. Überall hörte man Geschrei.
Auf dem Marktplatz vor dem Wolkenkratzer sammelten sich eine Menge Menschen, und die Polizei versuchte, sie auseinanderzutreiben, damit das Feuerwehrauto herankommen konnte. Aus den Fenstern des Wolkenkratzers schlugen lodernde Flammen, und die Feuerwehrmänner waren von Rauch und Funken umhüllt. Aber sie gingen mutig daran, das Feuer zu löschen.
Das Feuer hatte im Erdgeschoß begonnen, aber es verbreitete sich schnell bis in die oberen Stockwerke. Da bekamen die Menschen, die auf dem Marktplatz versammelt waren, plötzlich etwas zu sehen, was sie vor Schreck aufschreien ließ.
Ganz hoch oben im Hause befand sich eine Stube, in deren Fenster, das gerade von einer kleinen Kinderhand geöffnet wurde, zwei kleine Jungen standen und um Hilfe riefen.
„Wir können nicht rauskommen, denn es hat jemand Feuer auf der Treppe angemacht!“ schrie der größere.
Er war fünf Jahre alt, und sein Bruder war ein Jahr jünger.
Ihre Mutter war ausgegangen, und nun
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