Piratenbraut
familienpolitische Initiative. Deshalb wird nun ein zweites Mal abgestimmt, diesmal Abschnitt für Abschnitt. Schriftlich. Auf kleinen orangen Zetteln, die wir bei der Akkreditierung in einem Briefumschlag mit den Wahlunterlagen ausgehändigt bekommen haben und gleich mit sieben Kreuzchen versehen in eine der Wahlurnen werfen sollen.
Die umständliche Prozedur ist mir nach zwei Bezirksparteitagen und einer Landesmitgliederversammlung inzwischen vertraut. Ich muss mich mit der Akkreditierungsnummer auf meinem grünen Papierarmband ausweisen, dann wird der Wahlhelfer auf einer meiner Stimmkarten markieren, dass ich abgestimmt habe. Aber erst einmal beginnt hektisches Getuschel am Prometheus-Tisch: Sag mal, was kreuzt du denn jetzt an? Und welche Felder stehen überhaupt für die Ja-Stimmen? Ob wir vielleicht doch irgendeinen Baustein aus Lauras Antrag beschließen sollten? So ähnlich klang das früher beim Abschreiben der Matheaufgaben auf dem Schulflur.
Eines ist immerhin klar bei ungefähr 2000 Piraten in der Halle und sieben Antragsmodulen, über die abgestimmt werden soll: Es kann dauern, bis dieser Wahlgang ausgezählt ist. Ich schaue mich erst einmal um.
Vermutlich hätte ich vor einem halben Jahr meinen Augen nicht getraut: Wie viele Mitstreiter mit grellbunt gefärbten Haaren zu diesem Bundesparteitag angereist sind! Und erst die ganzen Pferdeschwanz-Nerds an den Tischen! Inzwischen sind mir solche Anblicke vertraut. Dass draußen vor dem Eingang ins Kongresszentrum eine Hüpfburg für uns aufgebaut ist, scheint mir fast schon zwingend. Es hätte mich irritiert, wenn die Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg heute ohne Wollknäuel zum Parteitag angereist wäre, obwohl sie doch permanent ihr »guerilla knitting« auf Twitter bewirbt. Im Moment strickt sie einen vielfarbigen Schlauch, der das Geländer hoch zur Bühne »umgarnen« soll. Und die Ex-Grüne ist mit ihrem Hobby nicht alleine. Ich würde sogar behaupten, hier in der Halle klappern mehr Stricknadeln als bei den Grünen in den Achtzigern.
Einige Piraten scheinen es geradewegs darauf anzulegen, als Freaks in die Abendnachrichten zu kommen. Gerade stakst ein großer Mann im schulterfreien Top an mir vorbei. Untenherum trägt er eine zerfetzte Netzstrumpfhose, die den Blick auf seinen Po freigibt. Ist das etwa eine Werbeaktion für den Antrag PA 605, der das Recht auf Nacktheit im öffentlichen Raum fordert? In der Sitzecke neben der Bar entdecke ich einen Mann, der im Frühjahr auf einem Spiegel -Cover abgebildet war – mit ebenjenem übergroßen Dreispitz-Piratenhut, den er auch heute auf dem Kopf trägt. Ein paar Meter weiter haben die parteiintern verrufenen Pro-Atomkraft-Piraten einen Infotisch eingerichtet und verteilen farbige Hochglanzflyer.
Im Bällebad im ersten Stock der Halle tollen zwei Kinder mit zwei Erwachsenen herum. Unten im Erdgeschoss segeln große und kleine Piratenschiffe über die Parteitagstische. Ein Metall-gestell ist mit rosa Plüsch-Einhörnern dekoriert. Wenige Schritte von unserem Crew-Tisch entfernt hat ein »Awareness«-Team seinen Stand aufgebaut. Es will in Streitfällen vermitteln. Die Frauen und Männer hinter dem Tisch tragen T-Shirts mit großen, roten Herzen auf der Brust.
Der Akkreditierungsstatistik zufolge ist der Durchschnittspirat in der Halle 38 Jahre alt. Zu meinem Erstaunen sitzen aber auch viele grauhaarige, alte Männer an den Tischen, die ich spontan nicht mit dieser jungen Partei in Verbindung gebracht hätte.
Wenn die Piraten programmatisch auch nur annähernd so krude zusammengewürfelt sind wie optisch, dann könnte dies die heterogenste Partei der Republik sein. Die Frage ist nur, ob man überhaupt Rückschlüsse von den anwesenden Piratinnen und Piraten auf die mehr als 34.000 Mitglieder zählende Partei ziehen darf.
Denn eines ist dieser Bundesparteitag mit Sicherheit nicht: repräsentativ. Die Piraten verzichten auf jede Form von innerparteilicher Hierarchieleiter oder Stimmenbündelung. Es gibt keine Mechanismen, um bei einem Parteitag wie diesem irgendeinen Proporz abzubilden. Und genauso soll es sein.
Die verlockende Einladung der Piraten an jedes Mitglied lautet: Komm zum Parteitag, bring deine Anträge ein, entscheide selbst mit! Das klingt ganz besonders demokratisch und durchlässig – und ist es theoretisch ja auch. Denn bei der CDU beispielsweise könnte ich als Neumitglied ohne Funktion niemals einfach zu einem Bundesparteitag fahren, dort bei jeder Gelegenheit das Wort ergreifen,
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