Piratenbraut
einem basisdemokratischen Parteitag wie diesem die Rednerliste nach der 15. Person beendet werden darf. Ein heiteres Raunen geht durch die Halle, als der Antrag zur Begrenzung der Rednerliste vorgestellt wird. Denn als Nummer 16 wartet nicht irgendwer hinter dem Saalmikrofon. Dort steht der Berliner Fraktionschef Christopher Lauer. Der Antrag verlangt also, just ihm das Wort zu verbieten. Lauer ist in Rage.
Eigentlich erstaunlich. Unlängst bei einem Besuch in unserer Nachbar-Crew war er leidenschaftlich über die nervige Parteibasis hergezogen und hatte sie wahlweise mit al-Qaida, Schlumpfhausen und Porsche Cayenne fahrenden Biomarktbesuchern verglichen. Nun hält ausgerechnet er ein flammendes Plädoyer gegen den Abbruch der Diskussion. Das wäre, ruft er entrüstet, »das Undemokratischste, was ich mir vorstellen kann!«. Wenig später faucht unten am Saalmikrofon die saarländische Landtagsabgeordnete Jasmin Maurer: »Die Tatsache, dass wir hier einigen Menschen das Wort verboten haben, ist eine Form von Zensur! Ich bin gerade tierisch angepisst!« Wie bitte, Zensur? Warum spricht sie nicht gleich von Folter oder Diktatur?!
Ich verstehe ja, dass möglichst viele Teilnehmer hier auch mal was sagen wollen, wenn sie schon aus allen Ecken des Landes nach Bochum reisen. Aber deshalb müssen doch nicht alle zu jedem Thema sprechen. Die Debatten sind ohnehin so strukturlos, dass sie kaum bei der Entscheidungsfindung helfen. Und das Arbeitspensum für diesen Bundesparteitag ist enorm.
Am Vormittag hat die Versammlung eine Tagesordnung mit 111 zu behandelnden Programmanträgen beschlossen. Wir sollen nicht nur über ein Rentenkonzept für unsere Partei entscheiden, sondern auch Grundsatzkapitel zur Außen-, Umwelt-, Europa-, Landwirtschafts- und Gesundheitspolitik beschließen. Auf nichts davon bin ich vorbereitet.
Klar, eigentlich hätte ich mich einlesen müssen. Woher aber sollte ich wissen, welche der 1471 Seiten aus dem Antragsbuch es hier in Bochum mithilfe des basisdemokratischen Zufallsgenerators auf die Agenda schaffen würden? Und selbst wenn ich es geahnt hätte: Ob das soeben zur Debatte gestellte »Rentenmodell für das 21. Jahrhundert« zukunftsweisend ist, könnte ich auch nach sorgfältiger Lektüre nicht einschätzen.
Es ist 17.30 Uhr, fast schon Halbzeit, wir sind beim vierten von 111 ausgewählten Anträgen auf der Tagesordnung. Am Saalmikrofon hat sich schon wieder eine meterlange Schlange gebildet. Gerade kritisiert jemand, er habe ein Problem mit der Formulierung »Jeder Rentner soll eine Mindestrente erhalten«. Es müsse im Antrag stattdessen heißen: »Jeder Mensch soll eine Mindestrente erhalten.« Jeder Mensch? Auch ich? Und meine fünfzehn Monate alte Tochter ebenfalls? Ich frage mich ernstlich, was diese ganzen Piraten davon überzeugt, ihre Gedanken zu den Antragstexten seien unverzichtbar und könnten die Meinungsfindung bereichern.
Eine weitere Dreiviertelstunde vergeht bis zur Abstimmung. Dann ist klar: Die anwesenden Piraten nehmen nur die vage Präambel und einen weiteren Absatz des Rentenkonzepts an. Der Trend hier in Bochum geht offensichtlich zu unverfänglichen Programmhäppchen. Auch ich scheue mich, Dinge durchzuwinken, deren Tragweite ich nicht abschätzen kann. Doch wenn die Konsequenz heißt, dass am ehesten leere Floskeln mehrheitsfähig sind, dann finde ich das bedenklich.
Was ist denn nun schon wieder auf der Bühne los? Da steht jemand und bittet, wir sollten noch einmal über das Anti-Diskriminierungsprogramm abstimmen, das heute beschlossen worden ist. Es enthalte nämlich die Formulierung »nationale Identitäten« – und das gehe gar nicht. Wie jetzt? Wir sollen wieder zurücknehmen, was bereits beschlossen wurde, weil wir nicht erkannt haben, dass es einen missverständlichen Satz beinhaltet? So fragwürdig auch mir der Satz mit den »nationalen Identitäten« erscheint – ich wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, dass das geht: einen Antrag auf Rücknahme eines Beschlusses stellen. Da kann ja jeder kommen und wieder von vorne anfangen wollen! Aber meine Mitstreiter sehen das wohl anders. Die Abstimmung wird wiederholt.
Langsam verliere ich den Überblick. Jemand beantragt, auch die Wiederholungsabstimmung zu wiederholen, weil die Versammlungsleitung die Mehrheiten falsch beurteilt habe. Wir heben also noch einmal die Stimmkarten. Doch jedes Mal, wenn die Versammlungsleitung uns aufruft, nun für oder gegen den strittigen Antrag zu votieren, verändert
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