Piratenbraut
mit abstimmen und gleich auch noch beliebig viele eigene Anträge zu allen möglichen Themen einreichen.
Die Piraten hingegen wollen ohne verkrustete Delegiertensysteme, ohne kaum kontrollierbare, innerparteiliche Machtzentren auskommen, für die sie die »etablierten« Parteien scharf kritisieren. Bei ihnen führt kein mächtiges Vorstandsgremium die Parteitagsregie, sondern einzig und allein die angereiste Basis. Man könnte auch sagen: Die Basis inszeniert und feiert sich ein Wochenende lang selbst.
Welche gravierenden Nebenwirkungen dieses idealistische Konzept birgt, wird mir erst hier in Bochum so richtig bewusst. Logischerweise ist immer das Bundesland überrepräsentiert, das den Parteitag ausrichtet. Bei diesem 11. Bundesparteitag kommen sogar mehr als ein Drittel aller Akkreditierten aus Nordrhein-Westfalen. Die Piraten haben in NRW zwar weniger Mitglieder als in Bayern, aber hier in Bochum ist ihr Stimmgewicht dreimal so groß wie das ihrer Mitstreiter aus dem Süden.
Die großzügigen Mitmachrechte für alle Parteimitglieder haben also eine Kehrseite. Sie bedeuten im Umkehrschluss: Wenn du nicht selbst zum Parteitag kommst, hast du halt Pech gehabt. Bei den Piraten muss man seine Stimme selbst wahrnehmen, sonst verfällt sie. Wer bettlägerig ist, einen Angehörigen pflegen muss oder von seinem Arbeitgeber kein freies Wochenende bekommt, wer mit krankem Kind nicht verreisen möchte oder gerade kein Geld für eine Fahrt zum Parteitag hat, der bleibt außen vor. Umso mehr Einfluss auf die Parteigeschicke bleibt den anderen: flexiblen, wirtschaftlich gut gestellten Menschen mit der nötigen Freizeit. So entmachtet die Partei bei ihrem ehrenwerten Versuch, möglichst viele Menschen in die aktive Politik einzubeziehen, de facto einen erheblichen Teil der eigenen Basis. Einige Mitstreiter haben diese Parteiversammlung auf Twitter deshalb bereits umbenannt – in »Bundesprivilegiertenkonferenz«.
So wahnsinnig privilegiert komme ich mir allerdings inzwischen nicht mehr vor. Nach mehr als 4,5 Stunden ist kein Einziger der mehr als 700 eingereichten Programmanträge beschlossen, stattdessen wird noch immer die Abstimmung über Lauras sieben wirtschaftspolitische Antragsmodule ausgezählt. Dafür haben wir nebenbei schon über mindestens vier Geschäftsordnungsanträge zur Änderung der Tagesordnung entschieden. Oben auf der Bühne warnt die Versammlungsleiterin: »Es geht weiter mit grotesken Ansagen.« Wer sich Essen bestellt habe, solle es bitte vor der Halle abholen. »Der Pizzabote steht da und wartet!«
Erst nach fünf Stunden und einer Minute gibt der Wahlleiter mit tonloser Stimme bekannt: »Liebe Piratinnen und Piraten, wir haben ein Wirtschaftsprogramm.« Kurzer Applaus in der Halle. Fünf der sieben Module aus Lauras Antrag haben knapp die nötige Zweidrittelmehrheit erreicht. Tom aus meiner Crew hatte vorhin auf Twitter orakelt: »Ich wage zu prophezeien, dass das Ergebnis grotesk wird.« Die Auszählung gibt ihm recht. Im Wirtschaftskapitel des Grundsatzprogramms fehlen nun ausgerechnet die wichtigen Abschnitte »Wirtschaft und Staat« und »Steuern«.
Die eigentliche Überraschung aber kommt noch. Die Versammlungsleitung ruft einen weiteren wirtschaftspolitischen Grundsatzantrag zur Beratung auf. Ich frage meine Crew-Kollegen: Kann das sein? Wieso sollten wir jetzt noch ein zweites Wirtschaftsprogramm obendrauf beschließen? Einige aus meiner Crew sind der Ansicht, dieser Antrag höre sich gar nicht blöd an. Vorne am Saalmikrofon hingegen warnt Laura Dornheim, wir sollten das Programm jetzt bitte nicht unnötig aufblähen. Ich bin ratlos, enthalte mich. Um kurz vor 16 Uhr steht fest: Die Piraten haben künftig zwei Kapitel zur Wirtschaftspolitik mit zwei unterschiedlichen Präambeln in ihrem Grundsatzprogramm. Das immerhin dürfte inhaltlich vorerst mal ein Alleinstellungsmerkmal meiner Partei sein.
Vorne unterhalb der Bühne sortieren ehrenamtliche Helfer derweil schon die nächsten Geschäftsordnungsanträge. Langsam kommt es mir vor, als wollten viele, die hier in Bochum mit ihren monatelang ausgearbeiteten Programminitiativen nicht zum Zuge kommen, zumindest ein paar gerissene Geschäftsordnungsanträge durchbringen. Ganz besonders beliebt sind Anträge, einzelne Initiativen auf der Tagesordnung vorzuziehen. Ständig werden Abstimmungsergebnisse angezweifelt. Die einen fordern, eine Auszählung zu wiederholen. Die anderen verlangen eine geheime Wahl.
Momentan geht es um die Frage, ob bei
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