Piratin der Freiheit
zu handeln, aber da er alles weiß, weiß er auch, wie du dich verhalten wirst.«
»Weiß er also auch, ob ich zum Niger marschieren
werde?«
Der Alte nickte überzeugt.
»Das weiß er.«
»Und du? Weißt du es auch?«
»Ich auch.«
»Hat es Allah dir vielleicht enthüllt?«
»Mitnichten. Das warst du selbst. Wenn ich nach so
langer Zeit nicht wüßte, wie du reagierst, dann hätte ich keinen Grund, länger an deiner Seite zu bleiben.«
»Die Vorstellung gefällt mir nicht, daß einer, nicht einmal du, im voraus weiß, was ich tun werde«, befand Mulay-Ali. »Das macht mich verwundbar.«
»Mich noch mehr«, entgegnete der andere.
Der Mulatte blickte seinen alten Meister neugierig an, dachte besonders lange über die wahre Bedeutung der Antwort nach und ließ schließlich ein kurzes Lachen hören.
»Du hast recht!« räumte er ein. »Sehr recht!«
Eine Woche später verließen seine »Bataillone« die
Seestadt Ganvie, um ihren langen Marsch durch Urwälder, Flüsse, Sümpfe, Berge und Ebenen zu beginnen.
Den gut ausgerüsteten Truppen des mächtigen Königs
von Abomey gingen sie dabei aber lieber aus dem Weg.
Auf ausdrücklichen Wunsch des Weisen machten sie
auch einen Bogen um die bevölkerungsreichen Städte
Ibadän und Benin.
An der Spitze der Männer von Mulay-Ali marschierte
der Schotte Ian MacLean, gefolgt von einem halben
Dutzend eingeborener Dudelsackbläser, die man in
Edinburgh wegen »musikalischer Majestätsbeleidi-
gung« aufgehängt hätte. So bahnten sie sich mit Blut und Feuer ihren Weg durch die Territorien der Yoruba, dann der Ibo, wobei sie auf ihrem Marsch so viele
Sklaven wie nur möglich ergriffen und die örtlichen Häuptlinge zwangen, dem Mann absolute Treue zu
schwören, der zum unangefochtenen Monarchen der
Region auserkoren worden war.
Fünftausend bestens ausgerüstete Männer und sechzig Kanonen mittleren Kalibers waren in der Tat eine eindrucksvolle Kriegsmacht, die auf ihrem Marsch nur
verwüstete Felder, verbrannte Dörfer und zerstörte Familien zurückließ. Die Jungen legte man sofort in Ketten, während die Alten oder die Kinder entweder starben oder ihrem Schicksal überlassen wurden, je nachdem, mit welchem Fuß der Mulatte am Morgen aufge-
standen war.
Wenn der ermüdende Marsch, auf dem man Kanonen
oder Munitionskisten auf den Schultern schleppte, die Träger völlig erschöpft zusammenbrechen ließ, ließ
ihnen Mulay-Ali scharfe Pfefferschoten in den After stecken. Half dieses schnelle und grausame Mittel
nichts und sprangen die Männer nicht sofort wieder auf die Beine, dann ließ er ihnen mit der Machete die Köp-fe abschlagen.
Historiker versichern, daß in den drei Jahrhunderten, in denen der Sklavenhandel seine größte Blütezeit erlebte, über hundert Millionen Afrikaner direkt oder indirekt unter den schrecklichen Folgen litten. Zwar ist die Zahl in dieser Höhe nur sehr schwer zu bestätigen, Tatsache ist aber, daß die Brutalität, die der Mulatte Jean-Claude Barriere auf seiner gesamten unseligen
Reise durch die Territorien des Golfs von Guinea de-monstrierte, den dortigen Einwohnern als trauriger
Meilenstein der Grausamkeiten im Gedächtnis blieb.
Eine Welt, die seit Urzeiten vom Schrecken beherrscht wurde, mußte plötzlich erfahren, was es hieß, ohnehin verschreckte Menschen mit geradezu grotesk übertriebener Brutalität zu terrorisieren. Das ging so weit, daß einige Menschen schließlich sogar das Schicksal, auf ein stinkendes Schiff verschleppt und ans andere Ende des Ozeans zum Sterben geschickt zu werden, geradezu als Erlösung ansahen.
In der Ikonographie der Kulturen der Ibo, Fulbe, Bamileke und Yoruba findet man noch Skulpturen und
Bilder, die den König vom Niger zeigen, wie er auf
einem Sessel thront, der von zwanzig Sklaven auf den Schultern getragen wird. In der einen Hand hält er eine Lanze, in der anderen eine Fackel: die unmißverständlichen Symbole für Zerstörung und Tod, was er beides
stets hinter sich zurückließ.
Er war wie ein göttlicher Fluch, ein wahrer Erzengel des Schmerzes. Nachdem er vier Monate später die
Stelle erreicht hatte, die der Schotte ausgewählt hatte, zwang er die Sklaven, Tag und Nacht für den Bau der stolzen Festung zu schuften, um schließlich auf den Zinnen seine Kanonen aufzustellen und sich selbst zum unangefochtenen Souverän eines Reichs zu krönen, das in keiner Himmelsrichtung Grenzen zuließ.
Aber jetzt, zwölf Jahre später, als er sich auf dem Hö-
hepunkt
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