Pitch (German Edition)
schau dir mal den Kelch
an, diese zweilippigen Blätter, sie sind so schön glatt,
eins scheint mit dem anderen identisch zu sein, aber sie sind es
nicht, lauter feine, kleine Unterschiede, und doch, oder gerade
deshalb hat diese Pflanze etwas ungemein Zierliches, so etwas
Dekoratives, im nächsten Monat beginnt ihre Blüte, Mensch,
Mutter, sagt Philipp, jetzt lass doch mal diese blöde Blume, ach
ja, meinst du, sagt sie, sie schaut ihn gar nicht an, ich sag dir mal
was, mein Lieber, du hast von dieser ganzen Sache gewusst, und es war
dir egal, du bist ein Mann, Papa hat auswärts was laufen, so
muss es sein, denkst du so, hast du so gedacht, hast du dabei
vielleicht mal an mich, deine Mutter, gedacht, fragt sie ihn, nein,
sagt er betreten, hättest du aber, weil, ganz im Ernst, sie sagt
das ruhig und gelassen, jetzt könnt ihr mich alle mal, Philipp
zuckt zurück, er ist es nicht gewohnt, seine Mutter so reden zu
hören, auch wirkt sie, als habe sie getrunken, was, fragt er,
willst du damit sagen, ich will damit sagen, dass dein Vater heute
oder morgen sterben wird, und wenn er es nicht wird, werde ich, als
seine legitime Ehefrau, anordnen, dass die Maschinen abgeschaltet
werden, um den Mann nicht unnötig leiden zu lassen, dann wird
der Gute mit allen Ehren unter die Erde gebracht, selbst der Herr
Ministerpräsident wird dabei sein, du wirst es nicht glauben, er
hat mich heute Mittag noch angerufen, er sei auf dem Weg in die
Kabinettssitzung, er komme gerade aus dem Krankenhaus, von Karl, und
ehrlich, ich muss schon sagen, das fand ich nett, der Mann darf nicht
fehlen bei Karls Beisetzung, Robert Carlos hat das Prisma beiseite
gelegt, ist in die Halle gegangen und die Treppe hinauf, und was
dann, fragt Philipp, dann, mein Lieber, werde ich reisen, warum auch
nicht, ich kann es mir leisten, Papa hat gut verdient, ich bleibe,
Gott sei Dank, wohlversorgt zurück, ich werde es mir gut gehen
lassen, Philipp schaut sie etwas ungläubig an, was gibt’s
denn da so zu gucken, fragt sie ihn, Robert Carlos ist derweil im
ersten Stock angekommen und geht durch die Zimmer, Gertrud fährt
fort, weißt du, bevor der Pfarrer kam, war ich sehr
aufgebracht, ja, ich habe sogar ein, zwei Schnäpse getrunken,
klitzekleine Schnäpschen, sie hält, um zu zeigen, wie klein
sie waren, Finger und Daumen auf Augenhöhe fest
aneinandergepresst, Robert Carlos geht durch die Zimmer, in denen
Schränke mit herausgerissenen Schubladen stehen, zerrissene
Papierstücke, Briefe, Fotografien liegen auf der Erde herum,
aber dann, sagt Gertrud, kam Pater Abbond, der gute Abbond, so
treuherzig ist er, wie er mir zuredete, das Leben gehe weiter, man
dürfe sich nicht unterkriegen lassen, die Wege des Herrn seien
unergründlich, all der Quatsch, aber da ging mir ein Licht auf,
und ich sagte mir, ja, die Wege des Herrn sind unergründlich, er
lässt das Schwein, sie sagt das kalt und ruhig, einfach
abkratzen und lässt mich als reiche Frau zurück, schau mich
an, ich bin zweiundsechzig, ich sehe gut aus für eine
Sechzigerin, aber dein Vater hat das nicht bemerkt, er hat was
anderes gesucht, ich hoffe, er hat es ein wenig genießen
können, denn für ihn ist es jetzt vorbei, für mich
jedoch nicht, nein, Pater Abbond hat vor lauter abgedroschenen
Floskeln nichts sagen können, was nicht völlig daneben
gewesen wäre, und trotzdem, glaub mir, war jedes Wort eine
Offenbarung, ich werde leben, und dein Vater ist tot, ich werde das
Geld mit vollen Händen zum Fenster hinauswerfen, wie es mir Spaß
macht, mag sein, dass nicht allzu viel davon übrig bleiben wird,
wenn ich mal nicht mehr bin, mag sein, dass du selbst davon nur einen
Bruchteil bekommen wirst, deinen Pflichtteil, denn, ehrlich gesagt,
mein Lieber, von allen, auch vom eigenen Sohn, über Jahre hinweg
für dumm verkauft zu werden, ist keine feine Sache, und wenn du
meinst, dass ich dir das verzeihe, dann täuschst du dich
gewaltig, sie schaut ihn nun das erste Mal richtig an, und jetzt ist
Robert Carlos ein Stockwerk darüber im Arbeitszimmer seines
Großvaters angekommen, er steht vor einem Rahmen, aus dem die
Leinwand in Fetzen hängt, nichts ist mehr übrig von dem
Portrait, von der abstrakten Kleckserei, die vor wenigen Stunden noch
Karl Keiser dargestellt hat.
72
Carlo
liegt ruhig …
… auf
dem weißen Ledersofa, sein schwarzes Fell mit der Blesse hebt
sich sacht mit jedem Atemzug, er rührt den Kopf nicht, als er
die Tür hört, aber seine Ohren zucken, die engen
Augenschlitze öffnen
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